Leseprobe aus "Erwachsene Kinder" von Karl C. Fischer

24. Kapitel

Christians Alltag wird noch trostloser, da die Menschen immer mürrischer werden. Wenig Schlaf, Hunger, Sorgen und eine sich ständig erneuernde Angst prägen die Gesichter. Grau wirken sie, selbst wenn die Sonne scheint. Auch jüngere Frauen aus der Nachbarschaft sind um Jahre gealtert. Sie haben viel zu häufig den Tod gesehen.

Bei der alten Frau Krämer im Oeder Weg gibt es kaum noch Ware und wenn, nur auf Marken. Die Schaufenster sind mit Brettern vernagelt. Wenige Stunden am Tag ist der Laden geöffnet, solange der Vorrat reicht. Oft steht Christian stundenlang in einer Käuferschlange für ein paar Kartoffeln und etwas Margarine. Die Leute werden im Laufe der Wartezeit unmutig. Aus Sorge, am Ende nichts zu bekommen, rempeln sie die vor ihnen Wartenden an. Für Christian ist es ein dauernder Kampf gegen die Erwachsenen.

Einmal erlebt er, wie die früher so besonders freundliche Frau Krämer plötzlich unwirsch aus dem Laden ruft: "Ausverkauft! Kommen Sie morgen wieder!"

Sie verriegelt die Ladentür. Etwa zwanzig Kunden stehen auf der Straße und drohen wütend. Christian will gerade umkehren, da sieht er, wie ein eilig heranstürmender SS-Mann von Frau Krämer durch den Eingang des Nebengebäudes hereingelassen wird. Wenig später kommt er wieder mit einer schweren Tüte in der linken und einem gefüllten Einkaufskorb in der rechten Hand heraus. Einige Leute, die das sehen, murren. Einer sagt sogar leise: "Sauerei!" Nach einem Augenblick schweigsamer, allgemeiner Entrüstung gehen sie hungrig nach Hause. Auch Christian.

In Nummer dreizehn gehen sich jetzt die Hausbewohner aus dem Weg. Keiner will mehr mit dem anderen teilen. Zwischen Onkel Weckmann und dem Vater soll es Streit gegeben haben. Der Junge hat es nur erfahren, weil er eine Unterhaltung zwischen den Eltern belauschte. Dabei hörte er, daß der Streit begann, weil Onkel Weckmann ein paar Äpfel aus dem Garten genommen hat.

Man kann einfach mit keinem mehr reden, denkt der Junge und fragt sich, ob das wirklich nur am Bombenkrieg liegt. Aber niemand scheint ihm diese Frage beantworten zu wollen.

Nach der Bombe auf die Holzhausenschule sind alle Schulen der Stadt geschlossen worden. Es gibt kein Lesen, Schreiben, Rechnen und auch keinen Sport mehr. Fast alle Kinder sind mit ihren Müttern mit der 'Kinder-Land-Verschickung' aufs Land gezogen. Aus Sicherheitsgründen, sagen einige. Da wird umerzogen, vermuten andere.

"Weil der 'Endsieg' noch ein bißchen auf sich warten läßt", erklärte kürzlich Onkel Weckmann.

"Tatsache ist", meinte wenig später der Vater, "daß die Leute wegziehen, weil sie ahnen, daß die schlimmen Angriffe noch bevorstehen." Was aber er und Mutter vorhaben, erwähnte er bisher mit keinem Wort.

Sogar Inge Bauer aus Nummer achtundzwanzig, in militärischen Fragen sachverständig wie immer, behaup-tete kürzlich: "Die Luftschlacht über dem Reich ist schon entschieden — zugunsten der 'Tommys'."

Danach ist Inge selbst weggezogen, ohne ein Abschieds-wort. Das war vor zwei Tagen.

Christian erfährt es in der Schlange vor dem Milchgeschäft Rosin. Da erzählt eine ältere Frau, die in Nummer sechs-undzwanzig wohnt, daß Bauers nach Camberg in den Hintertaunus geflohen seien.

"Geflohen", hat die Frau gesagt. "Mit Sack und Pack sind sie abgehauen! Aus reiner Angst. Die Frau eines Helden von der Ostfront. Wenn die Leute schon das sinkende Schiff verlassen, müßten die Herrn da oben uns Alte endlich auch in die Evakuierung entlassen."

Diese letzten Worte hat Christian deutlich verstanden. Das Wort Evakuierung allerdings kennt er noch nicht. Lexikon, denkt der Junge sofort.

Auf dem Heimweg sieht Christian von weitem einen Lastwagen in der Soemmerringstraße, etwa vor Nummer zwölf. Brigitte und Peter Hanitsch, seine letzten Freunde in der Straße, hantieren inmitten der Ladung oben auf der Pritsche des Wagens. Frau Hanitsch steigt gerade in das Fahrerhaus. Christian ahnt, daß die nun auch wegziehen. Er beeilt sich. Wenigstens noch ein Wort, denkt er, will sie fragen, wohin sie fahren. Christian läuft schneller, achtet nicht auf die Milch in der Kanne und verschüttet etwas davon. Das Lastauto setzt sich in Bewegung. Laut ruft er: "Peter ... Peter ... Brigitte ... "

Alles geht so schnell, daß Peter erst jetzt seinen Freund erkennt, doch er reagiert sofort.

"Christian, wir fahren auch in den Dillkreis ... "

Der läuft jetzt neben dem langsam anrollenden Auto her. Verschüttet weitere Milch.

"In die Evakuierung ... ", schreit Brigitte vom Wagen runter.

Da ist schon wieder dieses Wort, fällt ihm ein.

"Du sollst bald nachkommen, hat deine Mutter gesagt ... "

Auch Peter ruft noch was, aber Christian kann es nicht mehr verstehen. Dann verschwindet der Lastwagen im Bornwiesenweg. Einen Moment nur verschnauft er. Was hat Brigitte da eben noch gerufen? Die haben was geplant, ohne mir etwas zu sagen. Das gibt es doch nicht!

Ärgerlich kickt Christian einen Kieselstein über die Straße, als ein großes, schwarzes Auto an ihm langsam vorüberfährt. Der kleine Stein donnert gegen das Blech des Wagens, der nun am Gehsteig, genau vor Nummer dreizehn, zum Stehen kommt. Der Junge beobachtet, wie sein Steinchen in die Gosse kullert.

"He, wat fällt dir denn ein?" vernimmt er eine kräftige Stimme aus dem Wageninnern.

Christian sieht zwei Leute im Auto sitzen. Der junge Mann am Steuerrad trägt eine Schirmmütze. Der andere, der soeben schimpfte, hat eine Melone auf dem Kopf und sieht Vater sehr ähnlich. Wütend reißt der alte Mann die Wagentür auf und starrt Christian an. Will wohl erst richtig loslegen, doch dann scheint er sich im letzten Augenblick zu besinnen, sein Blick wird wieder freundlicher. Dennoch ist dem Jungen nicht wohl in seiner Haut, als der Mann ihn anblickt.

Hätte ich doch den Stein nicht so fest über die Straße getreten, denkt er.

"E ... e ... ent ... schul ... digung", stottert Christian.

Da lacht der alte Herr im Auto.

"Du bist es tatsächlich", ruft er. "Christian, mein Großneffe. Ich seh's deinen Augen an."

"Ja", antwortet Christian erleichtert. "Christian heiße ich."

In dem Moment öffnet sich im Erdgeschoß das Fenster von Vaters Arbeitszimmer.

"Wilhelm, du?" ruft der Vater erstaunt. "Ich komme."

Das also ist Onkel Wilhelm aus Düsseldorf, schießt es Christian durch den Kopf. Der, der früher mit Diamanten statt mit Geldscheinen bezahlte und der ein so wichtiger Mann bei einer Bank in England ist. Der viel im Ausland war und sogar in Afrika bei den Negern gelebt hat. Der ist das. Der Mann, dem selbst die höchsten Nazis nichts tun dürfen. Nein, so hat sich der Junge diesen wichtigen Mann nicht vorgestellt.

"Nicht nötig, Karl", ruft Onkel Wilhelm zurück, während er aussteigt. "Ich hab es sehr eilig. Bereite du mal alles vor."

Christian staunt über den ungewöhnlichen Aufzug seines Großonkels. Gekleidet ist er wie aus einem alten Modejournal: Dunkler Anzug, weiße Handschuhe und Gamaschen, Lackstiefel, sogar einen schwarzen Spazierstock mit silbernem Knauf hat er. Und ein Auto mit einem Fahrer, wo doch alle ihre Wagen abliefern mußten. Christian hört die kräftigen Schritte des Onkels auf sich zukommen, spürt seinen aufmunternden Klaps und vernimmt: "Komm schon, Junge. Zum Staunen haben wir später Zeit."

Auf dem Flur begrüßen die Eltern den Großonkel knapp, denn der kommt gleich zur Sache:

"Habt ihr alles gepackt? Ich nehme ihn gleich mit. Wir müssen schon in der Nähe von Paris sein, bevor es dunkel wird. Wir schaffen es, denn Franz ist ein guter Fahrer ... "

Christian merkt, daß die Eltern nur ihn ansehen, während der Großonkel in knappen, schnellen Sätzen die Eltern in Kenntnis setzt.

Es geht hier um mich, denkt der Junge entsetzt. Für mich sollen die Eltern gepackt haben. Ich soll also auch weg. Allein, aber nicht in den Dillkreis oder Hintertaunus. Nein, nach Paris. Ohne zuvor gefragt worden zu sein. Nein! So nicht!

"Meint ihr mich?" stößt Christian wütend hervor. "Meint ihr, ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt ... ihr ... ihr seid ja noch schlimmer als die Nazis!"

Onkel Wilhelm ist schockiert. Der Gefühlsausbruch des Jungen unterbricht jäh des Großonkels Anordnungen. Er atmet tief durch, holt ein silbernes Zigarettenetui aus seiner rechten Jackettasche und bietet Vater daraus eine an.

"Navy Cut", sagt er beiläufig und reicht Vater ein silbernes Feuerzeug.

"Habt ihr denn noch nicht über die Einzelheiten mit dem Jungen gesprochen?"

"Überhaupt nichts haben sie gesagt", schreit Christian dazwischen. "Seit das mit der Schule passiert ist, reden sie doch nicht mehr mit mir."

"So geht das nicht, mein Junge", sagt der Großonkel scharf. "Für's Streiten haben wir keine Zeit. Es muß schnell gehen. Keine langen Fragen. Weitere Kinder müssen mit."

Die Eltern schweigen. Christian schaut den Onkel an und staunt erneut. Er bemerkt, wie ruhig der Mann an der Zigarette zieht. Seine Stimme hat sich zwar deutlich gehoben, unbeherrscht aber wirkt sie nicht.

Er will, denkt der Junge, etwas in ganz kurzer Zeit durchführen. So, wie der Vater noch vor wenigen Monaten. Damals, als der wegen der Bombe mit dem Motorrad zur Technischen Nothilfe fuhr. Christian beginnt den Großonkel so zu mögen wie früher den Vater.

Da wendet sich der Onkel erneut an Christian und sieht ihn ernst an. "Hör mir jetzt genau zu. Es muß schnell gehen. Aber du sollst dich entscheiden. Daher mußt du wissen, was von dir verlangt wird."

Christian spürt, daß es um etwas sehr Wichtiges geht und um eine so gefahrvolle Sache, daß die Eltern zu unsicher waren, sie ihm anzuvertrauen. Er ist bereit zuzuhören, zu verstehen und mitzumachen, was man von ihm verlangt.

"Von Paris aus", fährt der Onkel fort, "kann ich nicht mehr dabei sein. Du bist dann mit zehn Kindern zusammen. Unsere Quäker-Organisation wählte sie aus. Rote-Kreuz-Schwestern betreuen euch. Mit einem Militärlastwagen fahrt ihr zur Kanalküste."

Christian fallen die Nächte im Luftschutzkeller ein. Die Einschläge der Luftminen. Das Schreien der Verschütteten. Die stickige Enge. Viel schlimmer kann der Kindertransport durch Minenfelder auch nicht werden, überlegt er.

"Und dann werdet ihr in der Nacht zu einem Unterseeboot gerudert."

U-Boot, Kriegsmarine. Hab ich doch in der Wochenschau mit Inge gesehen. Wenn ich das später mal Brigitte erzähle, daß ich in hundert Meter Tiefe den Kanal überquert hab.

"Ihr geht in England von Bord. John und Magret Steve, auch Quäker, die auf dem Land leben und selbst zwei Kinder haben, werden dich aufnehmen. Dann ist der Krieg für dich zu Ende."

Christian sieht das Land vor sich: Saftige Wiesen, Blumen, Schmetterlinge. Dort herumtoben und mit anderen Kindern spielen.

"Ein Torpedo", unterbricht die Mutter plötzlich, "oder eine Mine im Sand und Tieffliegerbeschuß können das Abenteuer zur Katastrophe werden lassen."

"Im übrigen, Wilhelm", mischt sich nun auch der Vater ein, "haben wir dem Jungen nichts gesagt, weil er die Gefahr überhaupt noch nicht erkennen kann und daher auch keiner Entscheidung fähig ist."

Was glauben die denn, denkt Christian. Gefahr, als ob ich nicht wüßte, was das ist. Ich handle dann oft ruhiger als die Erwachsenen. Und warum soll gerade das U-Boot mit den Kindern von einem Torpedo getroffen werden? Zumal, wie der Onkel eben noch sagte, jetzt mehr englische Kriegsschiffe im Kanal fahren als deutsche. Es soll sowieso nicht lange dauern, bis die rüber kommen und uns von den Nazis befreien.

"Dein Angebot zur Rettung des Jungen", hört Christian den Vater sagen, "ist lobenswert, aber ... "

"Es ist aber das einzige, was ich machen kann, wenn ihr es begreiflicherweise ablehnt, daß er hier allein in die Evakuierung geht", unterbricht der Onkel den Vater.

Christian überlegt. Evakuierung scheint also auf keinen Fall der Transport über Frankreich nach England zu sein.

"Was ist denn Eva...ku...ierung?" fragt der Junge.

"Ja, da haben wir es, Wilhelm", meint die Mutter lächelnd, "er weiß überhaupt nicht, um was es hier geht."

"Und dann sollen wir ihn nach seiner Meinung fragen?" vollendet der Vater ärgerlich.

"Ich glaube aber, daß er mich richtig verstanden hat", betont der Großonkel.

"Bestimmt, Onkel Wilhelm!" schreit der Junge, als er merkt, daß der Vater dem Onkel ins Wort fallen will. "Ich hab nämlich alles verstanden. Ich will nach England, wo es keine Nazis gibt. Ich hab keine Angst vor so einem Transport über Minenfelder und ich glaube, daß mich die U-Bootfahrer sicher über den Kanal bringen. Und bei den Leuten auf dem Land wird's mir besser geh'n als hier, weil ich da wieder mit anderen Kindern spielen kann ... "

Die Eltern schweigen betroffen, während der Großonkel Christian überrascht ansieht.

" ... und keine Bomber ... und keine Luftminen ... und keine Adolf Aschenbrenners unter den Trümmern sehen muß ... "

Energisch unterbricht der Vater den Redeschwall: "Er übertreibt wieder."

"Aber er versicherte doch gerade, daß er alles verstanden hat", widerspricht der Onkel.

"Man kann sich aber nicht immer auf das verlassen, was er sagt", wendet die Mutter ein. "Das ist eine Gefahr für das Unternehmen. Da müssen absolut verläßliche Buben mitmachen, Wilhelm. Disziplinierte Kinder, Jungens, die es gelernt haben, sich nach den Erwachsenen zu richten. Wir kennen unseren Sohn. So ist der nicht."

Das hat gesessen, denkt Christian bitter. Erst haben mich die Eltern als dummen Jungen hingestellt und nun behaupten sie sogar, daß ich die Flucht nach England in Gefahr bringen würde. Das ist gemein. Obwohl ich doch immer versuchte, zu beweisen, daß Vater sich auf mich verlassen kann. Nun zählt das nicht mehr. Wo es doch um mein Weiter-Leben geht.

Verbissen hört Christian, wie sie aufeinander einreden. Keiner hört dem anderen noch richtig zu. Sie sprechen über die Familie. Streiten auch über Onkel Heinrich, von dem die alte Eisenbahn auf dem zerstörten Dachboden ist. Der Junge erfährt, daß Onkel Heinrich ein wichtiger Chemiker in einer großen Fabrik ist und zur SA gehört.

"Ein strammer Nazi", sagt Onkel Wilhelm. "Trotz seiner Verbindungen hat er nicht einmal seinem Vater geholfen, als der von Nazi-Ärzten auf dem Eichberg bei Eltville so mißhandelt wurde, daß er danach gestorben ist ... "

"Aber er ist doch mein Bruder, Wilhelm", wirft die Mutter ein.

"Gewiß, Dora. Doch ich weiß, daß ihr noch unter dem Kerl zu leiden habt, wenn ihr ihn weiter als harmlosen Mitläufer anseht. Meine Quäkerfreunde in England haben nämlich herausgefunden, daß Heinrich an der Herstellung von Giftgas für die Massenvernichtung im Konzentrationslager Auschwitz beteiligt ist."

"Und was sollen wir da machen?" fragt der Vater miß-mutig.

"Merken sollt ihr es euch! Merken! Deutschland hat schon ab zweiundvierzig den Weg in den Untergang angetreten, und im Osten beginnt bereits die Niederlage. Merken sollt ihr euch jene, die jetzt noch die Henkersknechte unterstützen ... "

"Aber was kann ich denn schon gegen meinen Bruder ausrichten", unterbricht die Mutter.

"Du mußt dir jetzt nur seine Untaten merken. Spätestens in zwei Jahren, wenn der Krieg zu Ende ist, hast auch du die Pflicht, solche Leute vor Gericht zu stellen. Die sollt ihr euch merken, die jetzt die Märchen vom 'Endsieg' und den 'Wunderwaffen' des Führers mit glühendem Fanatismus unters Volk streuen. Sie sind es doch, die das Leben auch eures Jungen nicht schonen und ihn womöglich noch in den längst verlorenen Kampf schicken."

Staunend merkt Christian, wie die Eltern dem Onkel zuhören. So klar hat hier noch niemand das Wort ergriffen. Der Junge spürt, daß diese Worte in einiger Zeit große Bedeutung haben werden.

"Merken sollt ihr euch ... " hat er immer wieder gesagt. Das will ich mir ganz fest einprägen, es niemals vergessen.

Jetzt wendet sich der Großonkel wieder an Christian, legt die Hände auf seine Schultern und sieht ihm in die Augen. "Ich weiß nicht, ob du alles verstanden hast?"

Christian nickt. Er versucht, dem fragenden Blick des Onkels standzuhalten, schluckt, wird unsicher und schaut verlegen zu ihm hoch.

"Mm", meint der Onkel. "Vielleicht ein wenig. Na gut. So kann ich dir in der Kürze der Zeit leider auch nicht erklären, wieso ich heute schon weiß, was die Bomber noch alles in Deutschland zerstören werden. Dafür mag es dir helfen, wenn ich dir versichere, daß keine Bomben auf Heidelberg fallen werden. Und dort, in der Römerstraße, lebt noch das Ehepaar Rupp, auch Quäkerfreunde, mein lieber Christian. Genügt dir das?"

Die Verabschiedung des Großonkels ist so kurz wie die Begrüßung. Als Christian ihm hinterhersieht, kann er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Doch da klappt schon die Autotür zu und der Wagen fährt an. Da weiß er, daß sein Platz auf dem U-Boot von einem anderen Jungen belegt werden wird.

 

Als Christian nach einer Weile wieder die Wohnung betritt, stehen die Eltern am offenen Wohnzimmerfenster. Sie schauen in den Garten hinaus, reden eindringlich miteinander und bemerken ihn nicht. Christian kommt es vor, als würden sie bewußt keine Notiz von ihm nehmen. Daher nutzt er die Gelegenheit und geht zu Vaters Arbeitszimmer. Aus dem Bücherregal holt er den Brockhaus und schlägt unter 'E' nach. Da findet er das Wort 'Evakuation' und liest dahinter: Räumung.

Aha, denkt er. Sie räumen Frankfurt und wollen alle Leute aus der Stadt haben. Nur noch Ruinen sollen übrigbleiben.

Das Wort 'verbrannte Erde' fällt Christian ein, daß ein Obernazi vor kurzem in einer Rundfunkrede gebrauchte. Dabei sprach der Bonze davon, daß der anrückende Feind keine Städte mehr heil vorfinden und mit Panzerfäusten und Granaten aus den Trümmern heraus beschossen werden soll. Darum die Evakuierung, überlegt der Junge. Ich werde mich nicht evakuieren lassen, wie es die Nazis vorhaben. Da mach ich niemals mit. Und da ich nicht mehr nach England kann, will ich nach Heidelberg. Da läßt man ja die Stadt heil.

Christian ist entschlossen. Er weiß genau, daß er nicht allein nach Heidelberg gelangen kann. Die Eltern müssen helfen. Er wird sie solange bitten, bis sie zustimmen. Nichts wird ihn davon abbringen. Er geht zu seinen Eltern ins Wohnzimmer: "Ich will nach Heidelberg. Nicht in die Evakuierung, wie die Nazis es vorschreiben."

"Erst hörst du uns mal zu!" sagt der Vater scharf.

"Wir wollen nämlich hier nicht fort", erklärt die Mutter.

"Wegen der Wohnung, den Möbeln und dem schönen Garten", fährt Vater fort.

"Bitte." Christian sagt es ganz ruhig. "Ihr müßt mich zum Zug bringen. Mir eine Fahrkarte kaufen. Der Familie Rupp mitteilen, wann ich dort ankomme."

"Was fällt dir eigentlich ein?" wettert der Vater.

Der Junge läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ohne Hast beginnt er wieder: "Wenn ihr nicht wollt, geh' ich zu Möhrings oder Weckmanns und sag' denen ... "

"Das ist unerhört", beschwert sich die Mutter. "Was ist das nur für ein Kind?"

"Ungezogen ... einfach frech ist der", ereifert sich der Vater.

"Was ist?" fragt Christian fordernd. "Meine Sachen und mein Notgepäck hole ich aus dem Luftschutzkeller: Mehr brauche ich ja nicht. Oder?"

 

Zwei Tage vergehen. Dann endlich merken die Eltern, daß Christian nicht von seinem Vorhaben abzubringen ist. Am dritten Tag nach Großonkel Wilhelms Besuch verständigt der Vater die Familie Rupp in Heidelberg. Christian wird in Begleitung einer Nachbarin am nächsten Tag gegen zwölf Uhr mit der Bahn eintreffen. Dort wird Frau Rupp Christian abholen.

Die Nachbarin ist Frau Braun aus der Fichardstraße. Sie ist eine Bekannte von Frau Möhring, die sich bereiterklärt, ihre Reise in Heidelberg zu unterbrechen und Christian Frau Rupp zu übergeben.

Am Tag der Abreise hat Christian seinen blauen Matrosenanzug an; das dazugehörige Schiffchen sitzt keck auf den rotblonden Haaren. Mit gezwungenem Lächeln verabschiedet er sich von den Eltern. Seinen kleinen Notkoffer hat er dabei. Frau Braun trägt, neben ihrem eigenen, auch noch den Koffer des Jungen, der Wäsche, Kleidung und Schuhe enthält. Daß die Eltern nicht einmal mehr zum Abschied winken, stört Christian nicht. Daß sie bei ihrer Wohnung, ihren Möbeln und ihrem Garten bleiben wollen, statt mit ihm zusammen an einen sicheren Ort zu ziehen, beschäftigt ihn eher. Dabei ist er stolz darauf, sich ihnen gegenüber durchgesetzt zu haben.

Der Junge ahnt, daß er den Ort seiner Kindheit nie wieder so vorfinden wird, wie er ihn verläßt. Bombenteppiche werden die Gartenlaube vernichten, Bäume und Blumen verbrennen. Doch er wird überleben.

 
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