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Im Wohnzimmer der Mietschkes brummte behaglich der Kohleofen. Als er, der Josef, von draußen aus der Kälte kommend, in die Stube trat, strömte ihm Wärme entgegen, Roy Blacks verträumte Stimme und der Geruch nach Tanne, frischen Plätzchen und Kaffee. Denn auch hier, bei den Mietschkes stand ein großer Weihnachtsbaum in der Ecke, neben der Musiktruhe, und um den festlich gedeckten Kaffeetisch herum saßen fünf Personen, die dem Josef keineswegs unbekannt waren: Linda, die Hausfrau, klein und zierlich, einem Schulmädchen gleich, mit einem sommersprossigen Vogelgesicht und einem roten Pferdeschwanz, war die jüngste in der Runde. Neben ihr saß Frau Marajke, ihre Mutter, dem Aussehen nach ganz die Tochter, nur mit kurzen Dauerwellen und zwanzig Jahre älter. Die alte Frau Mietschke, silbergrau und groß, ganz die Frau aus dem Norden, war die älteste. Und neben ihr saß Frau Kopelke, die Hausfreundin der Mietschkes aus Stettin. Und zwischen ihr und der kleinen Hausfrau hatte Werner Mietschke, der junge Hausherr, mit gekrümmten Rücken Platz genommen. Er war groß und mager, der Werner, und sein kantiges Gesicht war von einer dunkelblonden Lockenpracht umrahmt.

Als erste löste sich Linda, die junge Hausfrau, aus dem erstarrten Bilde. Sie erhob sich, kam auf ihn, den Weihnachtsbesucher, zu und reichte ihm ihr Kinderhändchen.

"Und", sagte sie, trat einen Schritt zurück und sah ihn dann von der Seite an. "Und, wo hast du die Aranka Neni gelassen, du Ei?"

Er war nicht größer als sie. Mit seinem Bauch aber von dreifachem Umfang. So stand er da, im aufgeknöpften, langem Militärmantel, mit seinem großen Zigeunerschnauzer, in dem Eiskügelchen glitzerten, hatte immer noch die schwarzen Ohrenschützer auf, hielt die Flüchtlingsmütze in der einen Hand, in der anderen eine Aktenmappe. Er schaute zum Kaffeetisch hinüber und lächelte ziemlich verlegen. "No, die Aranka", sagte er dann, "die Aranka laßt eich alle schen grißen. Und sie winscht eich ein frohes Weihnachtsfest."

"Und warum ist sie nicht mitgekommen?"

"No, sie wird schon kommen. Ein anderes Mal."

Er bückte sich, stellte die Aktentasche auf den Boden und ging, die speckige Flüchtlingsmütze immer noch in der Hand, im aufgeknöpften, schwarzgefärbtem Militärmantel, an den Tisch heran, reichte zuerst den drei alten Damen, dann seinem Freund die Hand und wünschte nun seinerseits allen recht frohe Weihnachten.

Die Linda war verschwunden. Nun kam sie mit einem frischen Kaffeegedeck aus der Küche. Der Werner holte einen Hocker herbei. "Komm, setz dich", sagte die kleine Hausfrau und lächelte dem Josef ins Gesicht. "Der heiße Kaffee wird dir die Eisklümpchen am Schnauzer auftauen."

Er aber, nachdem er seinen Besucherpflichten nachgekommen war, winkte dankend ab: "Ich hab schon", sagte er. "Die Aranka, die sitzt noch." Dann bückte er sich, hob die Aktenmappe auf und wandte sich an den jungen Hausherrn: "Und wenn du schon hast", sagte er, "dann kenntn wir eigentlich anfanga ... "

"Ja", sagte der Werner. "Ja, natürlich." Dann erhob er sich in seiner vollen Lulatschgröße und sah sich um. "Wir gehn aber am besten", sagte er, "am besten in die Küche. Dort sind wir ungestört."

Die drei älteren Damen zeigten offen ihre Enttäuschung. Dann jedoch erklang Drafi Deutschers Stimme: "Marmor, Stein und Eisen bricht" und beanspruchte die Aufmerksamkeit der Damen total.

"Bei uns hier wird wieder geträumt", sagte der Werner in der Küche. "Drüben marschieren sie in Reih' und Glied und singen noch fleißig: 'Brüder zur Sonne, zur Freiheit'."

Er, der Josef, war vorerst damit beschäftigt, für seinen Mantel eine Aufhängemöglichkeit zu finden. "Ja", sagte er und schaute sich in der Küche um, "der Roy Black, der Drafi, der Heintje, Peggy March und wie die alle heißen, die ham da Freddy mit seina Sehnsucht nach da Heimat abgelest. Man hert den Freddy imma seltena im Radio ... "

Der Werner schaute sich um. "Du kennst die aber alle!" sagte er.

"No, ich nit so. Aba die Aranka. Die kennt sie alli per Nama. Die weiß, wer mit wem vaheiratet ist, wer wieviel Kinda hat und wer mit wem fremd geht ... "

Die Küche der Mietschkes hatte statt einer Decke ein Glasdach. Wahrscheinlich war sie als eine Art Wintergarten geplant gewesen. Und auf dem grünlichen, mit Draht durchzogenen Glas lag eine dicke Schneeschicht. Der Werner knipste das elektrische Licht an. Dann holte er aus dem Küchenschrank zwei Schnapsgläschen und aus dem Kühlschrank eine Flasche hervor. Das stellte er auf den Tisch. Der Werner mußte sich dabei ein bißchen krumm machen, denn er stieß mit seinem Lockenkopf an das Glasdach. Danach zog er sich einen Küchenhocker heran und setzte sich zu ihm, dem Josef, an den Tisch.

"Wie wir auf Deitschland gekomma sein", erinnerte sich nun der Josef, "da habn wir, mein Freind Peta und ich, im Flichtlingslaga Pidding, in da Kantinenbarackn, fast jedn Abend aus da Musikbox den Freddy das Lied: 'Dort wo die Blumen blihn', singa lassn. Und uns sein jedesmal die Träna gekomma ... No ja, es war halt alles noch zu frisch. Und ... und auch so ... Aba den Refrain", er mußte lächeln, "den Refrain: 'Schen war es zu Haus, schen war es zu Haus', das habn wir nit vastehn kenna. Wir habn imma gmeint, das heißt irgendwie: 'Schipa ritza ritz, schipa ritza ritz ... ' Und so habn wir ewig sinniert, was das sein kennte. Aba herausgfundn habn wirs nit. Ich habs viel späta rausgfundn. Ob da Peta, mein Freind, es inzwischn auch rausgfundn hat? Wer weiß ... "

Und so vor sich hin träumend nahm er nun die 'Akte' aus der Ledertasche. No ja, die Akte, das war noch ein rosaroter Schnellhefter. Und in diesem Schnellhefter befand sich ein Blatt weißes Papier.

Der Werner goß nun Schnaps in die beiden Gläschen und er, der Josef, zwirbelte erwartungsvoll an den Spitzen des großen Schnurrbartes herum. Die waren inzwischen aufgetaut und ganz feucht geworden.

"Eine Spezialität!" sagte der Werner. Er betrachtete eine ganze Weile die Flasche in seiner Hand. "Den", sagte er dann, "gibt es hier im Rheinland nicht zu kaufen!"

"Auf unseri Firma!"

"Auf gutes Gelingen!"

Sie leerten die Gläschen in einem Zuge. Dann goß der Werner noch einmal die Gläschen voll und sie tranken sie wieder in einem Zuge leer.

Er, der Josef, strich genüßlich den großen Schnauzer auseinander. "Und jetzet", sagte er dann, "jetzet ereffne ich die erste Grindersitzung von unsara Firma. Und beim ersten Punkt in da Tagesordnung, da gehts um da Nama."

"Den Namen hast du doch schon, so viel ich weiß", sagte der Werner.

Natürlich hatte er ihn. Er hatte einen Idealnamen! Und so kostete er, als er ihn dann aussprach, jede Silbe einzeln aus: "Nullnullsieben!" sagte er. "Ehevamittlungsinstitut Nullnullsieben!" Und dann fragte er, indem er lauernd seinen Sozius über den Tisch beobachtete: "Supamodern, was? Oh ja. Und supamodern muß er auch sein, sag ich dir. Jawohl, das muß er! Denn schau her: In jedem Mensch, sag ich dir, in jedem, sogar in dem vagessana Freilein in der Bibliothek mit die dickn Brillengläsa, sogar in der schlummat die Ibazeigung, daß sie ein moderna Mensch ist. Sie schlummat, sag ich, die Ibazeigung. Und jetzet? Jetzet muß etwas kommen, das ihra Ibazeigung schlagartig in ihra wachrittelt. So wie eine Explosion. Vastehst mich? Genau so! Und das kann nur unsa Nullnullsiebn! Und dann wird sie, die Vagessani, hinta ihri Bicherregale hervorkumma und wird sagen: Da sind moderni Menschn am Werk. Denen kannst dich anvatraun! Und was wird sie tun? No? Sie wird auf unseri Annoncn antwortn! Und dann? Und dann explodiert in ihra triestn Alltag hinein, unsa zweiti Bombe: Unsa Antwortbrief auf ihra Anfrage. Und darum muß jetzet auch diesa Brief kurz, modern und schlagkräftich sein ... " Und jetzt löste der Josef das Blatt Papier aus dem Schnellhefter, nahm es in beide Hände, räusperte sich und fing zu lesen an: "Ehevermittlungsinstitut Nullnullsieben. Sehr geehrtes Fräulein, sehr geehrter Herr. Was erwarten Sie von uns? Das große Glück? Einen steinreichen Partner, der Sie an seinem Bankkonto beteiligt? Oder erwarten Sie, nur so, eine Bekanntschaft? Wenn Sie das erwarten, dann sind Sie bei uns an der falschen Adresse ... Ja, und jetzet noch das ibliche bla, bla und dann hochachtungsvoll und so weita und so weita." Der Josef ließ das Papierblatt auf die Tischplatte sinken, strich ein paarmal glättend darüber und wartete dann auf Werners Zustimmung.

Der Werner aber applaudierte nicht. Er machte nicht einmal ein begeistertes Gesicht, der Werner. Ganz im Gegenteil, er riskierte sogar einen Einwand: "Weißt du", sagte der Werner, und er betrachtete nachdenklich sein Schnapsglas, das leer vor ihm auf dem Tisch stand. "Weißt du, ich denke halt, daß es auch ältere Menschen gibt, die einen Partner suchen. Und ob nun in denen auch so etwas schlummert, das unser Nullnullsieben erwecken kann? Es könnte ja auch sein", sagte der Werner, "daß so viel geballte Modernität diese, doch bestimmt große, Zielgruppe eher noch abschreckt ... "

No gut. Vielleicht hat a recht. Des mit die Altn, des hab ich nit so genau ibalegt. No gut ... "Okay. Kenntest recht habn. Aba wie jetzet weita?"

"Sieh mal", sagte der Werner, "sieh mal, unser Name und der erste Brief an den Kunden, beides sind doch unsere Visitenkarten sozusagen. Stimmts?"

"No ja ... "

"Und sie kommen als erstes in die Öffentlichkeit."

"Ja."

"Siehst du. Und sollten wir deswegen nicht vorher beides von Außenstehenden, von der Öffentlichkeit also, testen lassen? Zum Beispiel, von den vier Kaffeetanten da draußen im Wohnzimmer? Einfach nur mal hören, was die dazu sagen."

Bist entteischt, Hablitschka, aba mißtest wahrscheinlich doch wieda nachgebn. Trotzdem, da Schein muß schun gewahrt bleibn ... "Gut, das kenntn wir grad probieren. Aba es muß ja nit gleich die großi Effentlichkeit sein. Ich mein, die Linda, mein ich, als kleini Effentlichkeit, die wirde vorerst doch genigen. Mein ich ... "

"Okay"

Der Werner holte die Linda. Nach einer kurzen Einführung überreichten sie ihr den Anschreibebrief. Und derweil die Linda las, hingen die Augen der beiden Männer an ihrem sommersprossigen Vogelgesichtchen. Als sie das Blatt sinken ließ, fragten beide gleichzeitig: "Na, was hältst du davon?"

"Das heißt", fügte der Werner hinzu, "was würdest du, wenn du eine ältere Dame wärest, davon halten?"

"Ich würde denken ... ", sagte die Linda und ging mit dem Blatt in der Hand zum Elektroherd hinüber. "Ich", sagte sie, "ich würde denken, die Brüder wollen dich verarschen ... "

"Und unser Name? Das Nullnullsieben?"

"Hm", machte die hübsche 'kleine Öffentlichkeit' beim Elektroherd. Und "hm", machte sie noch einmal. Und dann fragte sie plötzlich: "Sagt mal, ihr Helden, habt ihr noch nie etwas von einem Urheberrecht gehört?"

"Na und?"

"Na und? Der Urheber des 'Nullnullsieben' kann euch verklagen!"

Der Werner schaute nun ihn, den Josef an, und er, der Josef, schaute den Werner an. Und beide drehten mit zwei Fingern ihre Schnapsgläschen im Kreise herum.

"No gut", sagte er, der Josef, sich zusammenreißend. "No gut. Ihr kennt sehn, an was man alles denkn muß, bevor man so einen gewaltigen Schritt untanehma kann. Gut. Den Brief werdn ma ändan. Jetzet da Firmennama: Kurz muß er sein, etwas soll er aussagn und modern soll er sein!"

"Glückliches Leben", sagte der Werner.

"Sonnenschein", die Linda, die immer noch abseits stand, mit dem Rücken an den Herd angelehnt. Und dann zählte sie noch auf: "Liebesnest, Ehering, Glückstreffer ... "

Plötzlich aber ließ der Werner seinen Lockenkopf zurückfallen, schaute zum schneebedeckten Glasdach hinauf und sagte: "Das Fenster." Anschließend zog der Werner mit ausgestrecktem Arm zwei lange Striche durch die verqualmte Küchenluft und sagte noch einmal: "Das Fenster ... " Und nach einer Weile, während ihm, dem Josef, und auch der Linda am Herde, vor Staunen die Münder offenblieben: "Ehevamittlungsinstitut 'Das Fenster'! Welche Fülle von Begriffen stehen hinter diesem einfachen Namen!" schwärmte der Werner mit zurückgebogenem Lockenkopf weiter. "Romantik", sagte er, "Expressionismus, Picasso, Traum, Blick in die Weite, Unendlichkeit, Sehnsucht, Hoffnung, Warten, Schauen und, und, und ... "

Und die Linda und er, der Josef, schauten staunend den Werner an, der immer noch, scheinbar abwesend, seinen Worten nachblickte, als schwebten sie unter dem niedrigen Glasdach herum.

"Gut!" sagte der Josef. "Ehevamittlungsinstitut 'Das Fensta'. Der zweiti Nama, aber der letzti! Gut."

"Wenn der Name steht", sagte nun der Werner und setzte sich gerade, "dann steht auch die Firma!" Danach erhob er sich gebückt, holte noch ein Schnapsgläschen aus dem Schrank und goß alle drei voll. Nun griffen sie zu und leerten sie. Auch die zierliche Linda, die zum Tisch gekommen war, kippte das ihre in einem Zuge.

 

Inzwischen war es draußen dunkle Nacht geworden. Die Flasche mit dem besonderen Schnaps, den es im Rheinland nicht zu kaufen gab, war leer, und er, der Josef, erinnerte sich der Aranka Neni in Gronau, des Schneewehens und des blauen Käfers, der sicherlich tief verschneit draußen auf der Straße stand. Sie beschlossen nur noch schnell, daß am übernächsten Tage, am 28. Dezember also, im Ordnungsamt, in der Laurentiusstraße, für das Ehevermittlungsinstitut 'Das Fenster', ein Gewerbe beantragt werden sollte.

"Das kannst du ja alleine machen", sagte der Werner.

"Nein!"

"Und warum nicht?"

"Weil", sagte der Josef, schon den langen Militärmantel anziehend, "weil bei diesm feialichn Akt beide Firmenschefs dabei sein missn! Und", sagte er, "weil die Grindungsurkunde anschließend geherig begossn werden muß. Das gehert sich so!"

Dann begaben sie sich alle drei hinaus ins Wohnzimmer und stellten nun der erweiterten Öffentlichkeit Firmennamen und die vorläufigen Statuten des Ehevermittlungsinstitutes 'Das Fenster' vor.

Frau Marajke, so wie es ihre Art war, lächelte nur und enthielt sich der Stimme.

Frau Mietschke senior, herzlich, aber ehrlich wie immer, sagte ganz kurz: "Ihr seid verrückt!"

Frau Kopelke, die Stettiner Freundin der Mietschkes, war begeistert. Und zwar, erstmal von der niedrigen Gebühr, vor allem aber von den Leistungen des Institutes. Und in ihrer Begeisterung erwog sie sogar, sich sogleich als erste Kundin eintragen zu lassen.

Dann verabschiedete sich der Josef von den Damen, die ihm schöne Grüße an die Aranka Neni mitgaben und sein Sozius, der lange Werner, mit dem Ergebnis der ersten Gründungssitzung offensichtlich zufrieden, begleitete ihn hinaus.

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