Kapitel 2

Während der Vernehmung hätte Norbert Haßler gern seinen Schmerz herausgeschrien. Jede Frage, ja sogar jedes Wort, hatte ihm körperlich wehgetan. Aber Beherrschung war für ihn seit einigen Jahren alles. Denn - wie oft er auch den verschiedensten Ärzten vorgeführt worden war - herausgekommen ist für ihn außer quälender Torturen rein gar nichts.

Die Fachleute und Spezialisten betasteten mit ernsten Gesichtern die V-förmige Narbe auf seinem Hinterkopf, schlossen ihn an verschiedene Geräte an, redeten unverständliche Sätze und gaben ihm Spritzen. Richtig geholfen hat ihm jedoch niemand.

Ein Schlüsselbund rasselte. Die Zellentür wurde aufgeschlossen.

"Norbert Haßler, zweiundzwanzig Jahre alt, einssechsundsiebzig Zentimeter groß", leierte der Justizbeamte runter, wobei er eine gelbe Karteikarte an seine Augen führte.

"Ja! Achtundsechzig Kilo Lebendgewicht, katholisch, ledig, keine Kinder ... "

"Werd bloß nicht frech", grollte der Wachtmeister. "Sonst behalte ich dich weiter hier."

Haßler raffte gleichmütig seine Sachen zusammen. "Mir auch egal. Bin es ja gewohnt. War schon öfter euer Gast."

Der Beamte gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. "Wir haben für dich immer ein Plätzchen frei", sagte er beinahe liebevoll.

Wieder in Freiheit stelzte Haßler durchs Menschengewühl und pfiff fröhlich vor sich hin.

Im Osthafen-Viertel hüpfte er übermütig die Stufen einer Gleisüberführung empor. Hier befand sich sein Lieblingsplatz. Stundenlang konnte er hinuntersehen, wie die Güterzüge ihre Ladungen transportierten, und wie das emsige Treiben der Hafen- und Bahnarbeiter ineinanderfloß.

Der Main schob träge Wellen rastlos gegen das Ufer.

Kohlenpötte und Schleppkähne tuckerten. Ihre dreckigen Rümpfe spiegelten sich in der schmuddeligen Brühe des Flusses.

Haßler beugte seinen Oberkörper weit über die Brüstung des stählernen Geländers und starrte mit brennenden Augen zum Anlegeplatz. "Dort, im dürren Schilf hat er sie gefunden", murmelte er.

 

Dunkle Gewitterwolken jagten über den Himmel. Der aufkommende Sturm fegte Laub und Unrat über die Brücke. Norbert Haßler zog den Kopf zwischen die Schultern und vergrub seine Hände in den Hosentaschen.

Hinter ihm näherten sich Schritte. Sie schlurften immer schneller werdend heran. Eine eiskalte Hand berührte Haßler am Nacken, und der brüllte erschrocken: "Nein! Nein!"

"Aber ich bitte Sie! Ich wollte Sie doch keinesfalls ängstigen."

Haßler fuhr herum und atmete erleichtert auf. "Ach Sie, Herr Emich." Er zitterte und bebte immer noch am ganzen Leib. "Ich ... ich war ganz in Gedanken versunken" lachte er gekünstelt heiter. "Mich einfach so zu erschrecken."

Emich wippte von den Absätzen auf die Zehenspitzen, was ihn einige Zentimeter größer erscheinen ließ. "Seien Sie froh, daß ich Sie sofort erkannt habe", witzelte er. "Sonst hätte ich der Versuchung, sie über das Geländer zu stoßen, kaum widerstanden. Sie beugten sich so einladend nach vorn." Er strich sich mit zwei Fingern durch sein schütteres, semmelblondes Haar. Sein karätiger Smaragd am kleinen Finger leuchtete trotz des düsteren Wetters auf.

"Wie ich bereits erklärte, es war nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken. Nur Sie wissen sicher, von hier oben aus kann man genauestens die Mordstelle einsehen. Die arme, kleine Sabine, und nun ist wieder so ein Küken tot aufgefunden worden ... "

"Ja. ja. Alles bereits bekannt." 

[...]

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