Der erste Einsatz

Am späten Nachmittag war die 21. Hundertschaft der Hessischen Bereitschaftspolizei alarmiert worden. Ein Beamter des Geschäftszimmers hatte die Lehrsaaltür aufgerissen und geschrien: "Unterricht einstellen, sofort fertigmachen für einen Einsatz auf der Startbahn West!" Dann war er weitergelaufen, zum zweiten und zum dritten Zug.

Anfangs hatten sie sich gefreut über das Ende des Unterrichts und über den Grund dafür, gefreut, daß es endlich losging mit echten polizeilichen Aufgaben, wegen denen man ja eigentlich zur Polizei gegangen war. - Daß man bei der Polizei vor allem lernen mußte, lernen und nochmals lernen, wie ein Schüler in einer hundsgewöhnlichen Schule, das hatten sie nicht gewußt. Es war ihnen gesagt worden, bei der Bewerbung, aber sie hatten es überhört, hatten nur hören wollen, daß es nach der Ausbildung in den Einzeldienst ging, nach Nordhessen, woher die meisten Anwärter kamen. Inzwischen wußten sie, daß nur die wenigsten das Glück haben würden, nach der Ausbildung zu ihren Wunschdienststellen versetzt zu werden; die überwiegende Zahl wurde in südhessischen Städten benötigt, vor allem in Frankfurt.

Ja, zuerst hatten sie sich gefreut und erwartungsfroh zugegrinst und Bemerkungen gemacht, die von Mut und Kraft zeugten. Jetzt würde man allen zeigen, was in einem steckte.

Die etwas nervöse Freude hatte lange angehalten und die Gespräche bestimmt beim Anziehen der noch unbenutzten Einsatzkleidung, beim Schnüren der Stiefel, beim Empfang der Waffen und der Schutzschilde, beim Aufstellen der Gruppenwagen, beim Antreten, als der Hundertschaftsführer kurz die Lage erläuterte und den Auftrag für die Hundertschaft bekanntgab. Die gespannte, erwartungsvolle Freude war auch noch während der Fahrt zum Einsatzort vorhanden, sogar beim Eintreffen auf der Okrifteler Landstraße in unmittelbarer Nähe des Waldstückes, an dessen Stelle die neue Startbahn entstehen sollte, und sie wurde nur wenig beeinträchtigt beim Anblick der unüberschaubaren Einsatzfahrzeuge und der offenbar ohne Plan und Ziel herumlaufenden Polizeibeamten, die alle einen schmutzigen, müden und mißgelaunten Eindruck machten.

Jetzt standen die Polizeianwärter des zweiten Ausbildungsjahres mitten im Wald und bildeten mit anderen Einheiten eine mehrere hundert Meter lange Polizeikette. Hinter ihnen waren die meisten Bäume schon gefällt worden; zum Teil waren sie schon vom Astwerk befreit und zu großen Stapeln aufgeschichtet; andere Stämme lagen noch so, wie sie gefallen waren. Zwischen den Stapeln, einzelnen Stämmen und Inseln von Unterholz loderten riesige Scheiterhaufen, auf denen die Äste verbrannt wurden.

Dieses Gelände hatte die Hundertschaft überwinden müssen, um ihren Platz in der Polizeikette einzunehmen. Sie waren über Stämme geklettert, in Gräben gefallen, die mit Wasser gefüllt und von Zweigen überdeckt waren, hatten sich durch dichtes Buschwerk gearbeitet und waren am Rande des noch unberührten Waldes auf die lärmende Menschenmenge gestoßen.

Die meisten Beamten in der Weiterbildung waren erst siebzehn, achtzehn Jahre alt, alle waren noch Lehrlinge in ihrem Beruf, manche so schmal und schwach, daß sie von ihrer Uniform und Ausrüstung fast erdrückt wurden, und viele von ihnen durften keine Veranstaltungen besuchen, "die ihrer Art nach geeignet sind, auf sie einen verrohenden Einfluß auszuüben". Dafür waren sie zu jung. - Hierher, in den Wald, durften sie jedoch auch mitten in der Nacht, denn hier trugen sie Uniformen und handelten im Auftrag und Interesse des Staates. An diesem Ort - wie durch Zauberwort - gab es auf einmal keine Gefahren mehr für Jugendliche, denn durch die Uniformen wurden ihre Träger größer, stärker und sogar älter.

Stundenlang bildeten sie nun schon die Polizeikette und spürten kaum noch ihre Beine. Noch traute sich niemand, sich entgegen der Anordnung auf den verlockend weichen Waldboden zu setzen, um die verkrampften Muskeln zu entlasten - das sollte erst später kommen, nach einigen Wochen - und so stützten sich einige auf die Schutzschilde, was angesichts der inzwischen gewalttätiger gewordenen Menge schon mutig genug war. Sie sahen starr geradeaus und fühlten sich so elend wie nie. Bereits nach wenigen Minuten waren die letzten Reste der Freude in ihnen erloschen und durch die Angst ersetzt worden. Sie standen den aufgebrachten Demonstranten direkt gegenüber, konnten ihren Atem spüren, sie riechen, und sie waren bespuckt und geschlagen worden, hatten sich als Nazi-Schweine, SS-Schergen und Totschläger beschimpfen und mit Buttersäure und Fäkalienbeuteln bewerfen lassen müssen, und sie hatten geschwiegen, ohnmächtig und hilflos. Irgendwann kam die Wut dazu. Sie war plötzlich da und wurde stärker mit jedem Schimpfwort, mit jedem geworfenen Stein oder Ast, wurde endlich stärker als die Angst, und dann kam der Zeitpunkt, als sie nur noch die Wut spürten und die Angst vergessen hatten.

Kurz nach der Ankunft hatte man versucht, den nächsten Waldabschnitt von Demonstranten zu räumen. Nach wenigen Minuten hatte die Polizeiführung einsehen müssen, daß die vorhandenen Kräfte dafür nicht ausreichten. Man hatte sich auf die Ausgangslinie zurückgezogen und Verstärkung angefordert. [...]

 

irgendwo aus der Mitte:

 [...] Wie durch dichten Nebel hörte Ziegler die Stimme des stellvertretenden Abteilungsführers. In seinen Ohren rauschte es, und seine Hände zitterten. Es schien ihm, als seien alle Augen höhnisch und schadenfroh auf ihn gerichtet. Er versuchte zu überlegen, welche Fehler er gemacht haben könnte, aber seine Gedanken wollten ihm nicht gehorchen.

Er hatte sich große Mühe gegeben, um mit seinen ersten Vorermittlungen einen guten Eindruck zu machen. Hätte er sich mit Simon beraten sollen? Aber disziplinare Vorermittlungen sind streng vertrauliche Personalangelegenheiten, die außerhalb der Abteilungsführung nur den Ermittlungsführer etwas angehen. Von diesem Gedanken hatte er sich leiten lassen, als er nach Feierabend den Bericht eigenhändig getippt hatte.

Er wollte fragen, näheres erfahren über seine Fehler, doch er fühlte seine Zunge wie eine dicke Wurst in seinem Mund.

Schließlich raffte er sich in einer fast übermenschlichen Anstrengung auf und zog den Umschlag zu sich heran. Dabei fiel sein Blick auf den ihm gegenüber sitzenden Brenner, den Führer des technischen Zuges der vierundzwanzigsten Hundertschaft. Brenner hatte sich weit zurückgelehnt und war damit beschäftigt, einen Metallknopf mit einer Büroklammer notdürftig an seiner Jacke zu befestigen.

Der neben Brenner Sitzende - wer war das nur? - döste blicklos vor sich hin, und der Übernächste putzte seine Brille. Mutiger geworden, forschte Ziegler in allen ihm zugewandten Gesichtern nach Zeichen von Hohn und Spott.

Er sah zu Simon, der rechts neben ihm saß. Simon war voller Konzentration damit beschäftigt gewesen, seine Fingernägel mit einem winzigen Federmesser zu reinigen. Bei Klitschers Vorwurf hatte er innegehalten und Zieglers weißes, maskenhaftes Gesicht von der Seite betrachtet. Erst hatte er etwas sagen wollen, es sich aber anders überlegt und wieder in seine Tätigkeit vertieft. Den hilfesuchenden Blick sah er nicht mehr.

Ziegler sah seine Kollegen an, die vor sich hin dösten und sich offensichtlich langweilten. In welche Bande war er hier geraten?

Oberrat Lamm hatte einen Tagesordnungspunkt beendet und wollte den nächsten ansprechen. Eine Hand wurde erhoben.

"Bitte, Herr Bellmann?"

Der Angesprochene räusperte sich umständlich und setzte sich gerade.

"Herr Klitscher", begann er, "bei dieser Gelegenheit möchte ich gerne etwas loswerden, was mir schon lange auf der Seele liegt. Ich weiß, daß sich einige Kollegen, die in Beamten- und Disziplinarrecht naturgemäß nicht auf dem laufenden sind - weil sie vorwiegend andere Aufgaben wahrnehmen müssen - mit der Durchführung von Vorermittlungen und dem Bericht ziemlich schwer tun. Ich möchte deshalb den Vorschlag machen, Disziplinarvorgänge ausschließlich durch Zugführer bearbeiten zu lassen. Auch wenn dies natürlich Mehrarbeit bedeutet, so bin ich doch bereit, die besagten Kollegen zu entlasten. Ich nehme auch in Kauf, daß meine Motive mißverstanden werden, aber ich glaube, die Fairneß gebietet es, diesen Vorschlag zu machen. Ich möchte nicht einer Entscheidung vorgreifen - nichts liegt mir ferner - aber vielleicht sollte man dabei bedenken, daß eine solche Lösung nicht zuletzt im Interesse der betroffenen Beamten liegt, denen an einer zügigen und ... äh ... komplikationslosen Abwicklung des Vorganges nur gelegen sein kann."

Mit einer wunderbar gelungenen Mischung aus Bescheidenheit, Stolz, Zufriedenheit und heimlicher Freude blickte Bellmann sich um und sah dann ins Leere, der Dinge harrend, die da kommen mußten.

Sein Vorschlag wurde unterschiedlich aufgenommen. Die Sachgebietsleiter waren erstaunt und angenehm überrascht über den Fürsprecher in den Reihen des Gegners, die Zugführer dagegen empfanden den Vorschlag als Dolchstoß in den Rücken. Was, noch mehr Arbeit zur Entlastung der Sachgebietsleiter, dieser Verwaltungs- und Kellerpolizisten, die ohnehin schon das schönste Leben führen? Keine Einsätze, kaum Wochenenddienste, dafür Beförderungen, von denen Zugführer nur träumen können! Das sind überhaupt keine richtigen Polizisten mehr, haben mit der Polizei so viel zu tun wie der Kerl vom Ordnungsamt, der Führerscheine ausstellt! Und die sollen noch entlastet werden? Entlastet wovon? Damit sie noch mehr Lehrgänge machen können, Lehrgänge, die kein Mensch braucht, am wenigstens ein Polizeibeamter? Ist der Kerl verrückt geworden?

"Ich stelle den Antrag", sagte laut und deutlich Oberkommissar Wagner, Führer des Aufklärungszuges bei der 24. Hundertschaft, "den Idiotentest endlich auch bei der Polizei einzuführen, und zwar so schnell wie möglich." 

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