Nur ein kleiner brauner Fleck

 

Novemberabend. Papa Berger sitzt hinter der Zeitung. Pit, die elfjährige Nervensäge, hat endlich aufgegeben und schläft. Vera und Marga, die Töchter, kommen noch einmal ins Zimmer, frisch gewaschen, gecremt, gebürstet und im Nachtgewand. Sie wollen noch ein bißchen mit ihren Eltern 'klönen', sagen sie.

Die Blicke der Hausfrau ruhen auf ihrer Familie. Im Augenblick ist Angela Berger zufrieden, findet alles gut, so wie es ist. Sie sind gesund und mögen sich!

Da - aus dem Zeitungsblatt springt ihr eine Anzeige entgegen:

 

Nach langer Krankheit entschlief heute mein innigst geliebter Sohn Lutz Bäumer

 

"Lutz Bäumer ist tot!', Angela schreit es heraus. Der junge Mann war ihr Nachbar, achtzehn Jahre alt!

"Wissen wir schon! " sagt Vera, die ältere, gelassen, "Lutz hatte Krebs. Ihr wißt doch, dieser dunkle Fleck, den er am Oberschenkel hatte... "

"Ich habe ja auch solch ein braunes Mal an meiner Taille", sagt Angela Berger und greift an ihre Körpermitte. Ihre Familie lacht. "Ach, du mit deinem Fleckchen ... !"

Angela kann nicht mitlachen. Wie betäubt starrt sie in die Zeitung. Wie oft hat sie es gelesen: Dunkle Flecke, sogenannte Melanome, sind die gefährlichsten Strahlenkrebse ... sofort zum Arzt u.s.w.

 

So, nun hat sie es endlich wahrgemacht: Angela sitzt tatsächlich im Zug, und fährt in die Großstadt, um dem Hautarzt ihr neues Muttermal zu zeigen. Soll er sie ruhig auslachen! Sie weiß dann wenigstens, woran sie ist!

Es ist ein sehr kalter Morgen. Im Wartezimmer von Dr. Kramer sitzen schon Patienten, obwohl es noch so früh ist. Eine freundliche junge Dame im blütenweißen Kittel und wippendem Pferdeschwanz sammelt die Krankenscheine ein. Angela bekommt ihr Nümmerchen. Sie ist die Zwanzigste!

Unkonzentriert blättert sie in einer Zeitschrift. Es gelingt ihr nicht, bewußt zu lesen. Sie ist zu nervös, um etwas aufzunehmen!

Im Innern schimpft sie mit sich: 'Gut, du hast ein Fleckchen auf dem Bauch, das unendlich langsam wächst. Na und? Tausende deiner Mitmenschen haben solche Muttermale auf dem Körper. Werden die etwa gleich hysterisch?' Aber da ist diese innere Stimme ... Wichtig allein ist jetzt, daß mich kein Krebs zerstört!" denkt Angela Berger. So, jetzt hat sie es zum ersten Mal vor sich selbst zugegeben: Krebs! Ist es möglich, daß sie ihn hat? Es ist möglich!

In der Mitte des Wartezimmers steht eine Holzeisenbahn. Ein etwa fünfjähriges Mädchen mit blonden Rattenschwänzchen' schiebt die Wagen hin und her. Sie ist Lokomotivführerin, Schaffnerin und Fahrgast in einer Person. Zuerst pfeift sie, wie der Beamte mit der roten Mütze, zur Abfahrt, dann wieder ahmt sie das Anrollen des Zuges vollendet nach, und schließlich sucht sie, wie ein schusseliger Zeitgenosse, ihre Fahrkarte in allen Taschen ihrer blauen Kordhose. Sie hat gut beobachtet. Die Wartenden sind fasziniert. Wird sie ihre imaginäre Fahrkarte finden?

 

Die Zeit versickert wie der feine Sand in einer Eieruhr. Ab und zu rückt eine Ziffer auf der Anzeigetafel weiter; der Patient mit der entsprechenden Nummer springt auf Neidisch sehen ihm die Zurückgebliebenen nach.

Was will ich überhaupt hier?' fragt sich Angela Berger. Ich vertue doch nur meine kostbare Zeit!' Aber da ist sie wieder, die innere Stimme ...

Und dann ist sie endlich "Der Nächste, bitte!" Ein wenig steif vom langen Sitzen stakst sie ins Sprechzimmer. Sie streift ihren Pullover hoch und stottert entschuldigend: "Sie dürfen mich ruhig auslachen, Herr Doktor, aber dieser Fleck hier ... "

Herr Dr. Kramer sieht sich das Mal kurz an, streicht mit kühlem Finger darüber. Angela kann an nichts mehr denken. Ihr Kopf ist eine leere Schachtel.

Endlich richtet sich der Arzt auf. Ich darf Sie beruhigen, Frau Berger, das Mal ist absolut gutartig, aber man kann wirklich nicht vorsichtig genug sein!"

Er setzt sich gedankenverloren auf seinen Stuhl an den Schreibtisch, spielt rnit seinem silbernen Füller. "Beobachten Sie das Ding schön weiter, ja!"

Sie steht wieder draußen in der kalten Luft. Alles ist wie immer: Kinder kreischen, Autos hupen, Frauen streben in die Läden. Angela atmet tief ein.

Nichts ist wie immer: Sie hat Gewißheit. Kein Krebs! "Danke, lieber Gott! ich lebe!"

Im Zug denkt sie schon wieder an das Mittagessen. Sie schafft es gerade noch, ehe ihr Mann und die Kinder heimkommen. Aber da fällt ihr siedendheiß ein: Sie hat dem Arzt gar nicht gesagt, daß ihr Fleckchen brandneu ist, gerade ein kurzes Jahr alt, und daß es unmerklich größer wird! Wäre - wenn er dies wüßte - seine Diagnose nicht doch anders ausgefallen?

Ach was, man kann die Vorsicht auch übertreiben!

Beim Mittagessen erzählt Angela ihrem Fritz - betont beiläufig - was der Hautarzt gesagt hat. "Siehste!" sagt Herr Berger mit vollem Mund. Und dann macht er, was er selten tut, weil es nicht in seiner Art liegt: Er drückt Angelas Hand so fest, als läge sie in einem Schraubstock!

"Darauf einen Cognac!" sagt er und füllt zwei Gläser. Angela denkt: 'Sieh an! So albern war das Ganze wohl doch nicht für ihn!'

 

Drei Wochen später schneidet Herr Doktor Kramer das Mal mit einem elektrischen Messerchen aus Angelas Taille heraus und schickt es zur Uni nach Düsseldorf zur Begutachtung.

"Weil Sie solche Angst haben, Frau Berger!" hat er gemeint "und weil auch der Rock- oder Hosenbund so drüberscheuert, nicht wahr? Man kann ja nie wissen! "

Angela schämt sich ein wenig ihrer Ängstlichkeit.

 

Nach einem weiteren Monat erfährt sie telefonisch das Ergebnis. Nun spricht der Arzt ganz anders: "Beinahe Krebs, Frau Berger! Denken Sie bloß mal, Ihr Fleckchen war gerade dabei, umzukippen! Es war tatsächlich fünf vor Zwölf! Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen! Gott sei Dank!"

 

Angela sitzt auf ihrem Sofa wie festgefroren. Blicklos starrt sie geradeaus. Ihre innere Stimme - wie recht sie doch hatte!

 

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