[...]

Warum konnte ich nicht darüber sprechen?

Die Operation verlief erfolgreich. Die Narbe verheilte gut, und nach ein paar Tagen war ich körperlich schon wieder fit. Nur, daß ich Krebs haben sollte, ging einfach nicht in meinen Kopf.

Die Metastasen hatten schon die Lymphknoten befallen, und allein deshalb brauchte ich eine schnelle Nachbehandlung.

Leben wollte ich und kämpfen, nur wie?

Vom Krankenhaus selber kamen keine Vorschläge oder irgendwelche Aufklärungen. Mein Mann und ich überlegten sofort nach der Entlassung, zur Uni Klinik nach Essen zu fahren. Da glaubte ich, daß alles nur mögliche getan würde, um mich am Leben zu erhalten - was ja auch neun Jahre gut ging.

An diesem 17. Oktober 1978 saßen wir in der Uni-Klinik bis zum späten Nachmittag. Das vollbesetzte Wartezimmer, das eher wie ein breiter Flur aussah, war bis zum letzten Platz gefüllt. Als endlich ein Stuhl frei wurde, blätterte ich lustlos einige Illustrierten durch. Die Themen schienen mir alle so belanglos, als würde es nichts Wichtigeres geben als Kosmetik, Mode und Autos. Da nahm ich mir lieber die Tageszeitung, die noch ungelesen auf dem kleinen, übervollen Tischchen lag. 'Ein neuer Papst wurde gewählt', las ich auf der ersten Seite. 'Zum ersten Mal seit 1523 wählte das Konklave einen nicht italienischen Kardinal, den polnischen Bischof Karol Woytyla zum Papst: Johannes Paul der II.' Dann kam viel Politik, aus aller Welt, die Wirtschaftsseite und die Todesanzeigen. Lustlos legte ich auch diese Zeitung weg. Ich fühlte mich sehr müde.

Endlich, es war schon kurz vor Mittag, wurden wir aufgerufen.

Als ich dann meine Krankengeschichte erzählen durfte, sagte der Arzt: "Ja, da müssen wir schnell was tun. Ich gebe das weiter, Sie bekommen täglich Bestrahlungen und eine Chemotherapie, aber darüber spricht Frau Dr. K. noch mit Ihnen."

Dr. B., wie ich an seinem Schild lesen konnte, schaute auf die Uhr und meinte, sich an den Magen fassend: "Jetzt machen wir Mittagspause, bitte kommen Sie um 14.00 Uhr wieder, dann werden Sie untersucht, und das andere besprechen wir dann noch."

So, das war's mal erst. Mein Mann schaute mich ungläubig an, ich schaute auch fragend: "Was soll das? Dafür haben wir so lange gewartet?"

"Daß für meine Frau etwas getan werden muß, ist doch klar, dafür sind wir doch hier. Sie lag drei Wochen im Krankenhaus und war noch nicht einmal zu Hause, weil wir sofort hierher gefahren sind. Können Sie meine Frau nicht jetzt untersuchen und beschließen, was gemacht werden muß? Warum sind wir denn eigentlich bei Ihnen?"

"Bitte, Herr Seier, beruhigen sie sich", sagte Dr. B. "Ich bin nur der sogenannte Aufnahmeleiter, prüfe, bestimme und genehmige die Behandlungen, die an den Patienten vorgenommen werden sollen. Die Einzelheiten, wieviel Bestrahlungen, welche Chemo und wie oft entscheidet ein anderes Ärzteteam. Sie können aber über die Mittagszeit hier im Hause bleiben, wir haben im Keller einen Getränkeautomaten, auch Kaffee gibt's dort."

Dann endlich um 14.30 Uhr wurde ich zu Frau Doktor K. gerufen. Sie untersuchte meine Narbe, wunderte sich über die Form des Schnittes; sie machen den Schnitt waagerecht, ich hatte ihn senkrecht. Dann wurde beschlossen, sofort mit den Bestrah-lungen anzufangen und mit der Chemo in vierzehn Tagen. Das wäre zwar ein harter Schlauch, erzählte sie mir, aber auch erfolgreich, wenn die Nachbehandlung jetzt schnell durchgeführt würde. Termine wurden gemacht, und dann durfte ich endlich nach Hause.

Dort war alles wie im Traum, nicht so wirklich, einfach anders. Wie eine Schlafwandlerin lief ich durch die Wohnung und dachte immer wieder, das Beste wird sein du verdrängst einfach Gedanken wie 'du hast Krebs' oder 'du hattest Krebs' - er wurde doch weggeschnitten!? Ich wußte es nicht. Eigentlich wußte ich nichts. In meiner Naivität hatte ich geglaubt, den Krebs dadurch besiegen zu können, daß ich alles vergesse, was war. - Als ob sich Ängste von alleine auflösen, nur weil man nicht darüber spricht! - Meine Verwandten und Freunde sagten: "Du bist aber stark, wie verkraftest du das eigentlich?"

Dann antwortete ich ganz locker: "Da muß ich eben durch."

Wenn ich auf der Straße gefragt wurde: "Hallo, wie geht es dir?" War meine Antwort immer: "Gut, gut geht es mir." Mehr war nicht zu erfahren. Ich habe alles verdrängt und wollte auch nicht darüber sprechen.

In Wirklichkeit war in mir alles leer, ja ich möchte sogar sagen kalt. Der Alltag lief wie ein Film vor mir ab. Meine Kinder waren mir fast gleichgültig, ja manchmal glaubte ich sogar, sie nicht mehr zu lieben. Aber der Gedanke machte mir Angst, und so verdrängte ich auch diese Erkenntnis, immer mit der Hoffnung, es wird schon werden.

Mein Problem war, daß ich meine Seele gefangen hielt wie in einer Rüstung. Seelische Nähe zuzulassen, ist mir immer schon schwergefallen. Jetzt hätte ich mich öffnen müssen, spätestens jetzt.

Wenn ich damals mit meinen Kindern über meine Krankheit gesprochen hätte, wäre ihnen so mancher Kummer erspart geblieben. Von meinem Mann wußte ich nur, daß er den Kindern gesagt hatte, daß Mama sehr krank sei und sie jetzt ein bißchen Rücksicht nehmen sollten.

Annette, mit ihren neun Jahren, hatte in der Zeit, wie sie mir erst später erzählte, viel gelitten.

Sie glaubte, ihre Mama hätte sie nicht mehr lieb, schließlich gab ich ihr genug Gelegenheit dies anzunehmen. Zum Beispiel in der Zeit während der Chemotherapie, wo man einfach nur funktioniert und gar nicht richtig lebt, ohne Emotionen, ohne zu lieben, zu lachen und freudige Dinge auszutauschen. Das, was eigentlich Leben ausmacht, war verloren gegangen.

Über alle diese Gefühle und über die Krankheit Krebs hätten wir gemeinsam mit den Kindern sprechen sollen. Sie hätten es verstanden, daß ich Lebensangst hatte und daß ein Mensch, wenn ihn die Übelkeit befällt, nicht mit den Kindern tollen, kuscheln und schmusen kann. Wenn ich ihnen öfter gesagt hätte, daß ich sie trotzdem sehr lieb habe, es mir nur im Moment nicht so gut gehe, wäre in ihrem Leben wahrscheinlich vieles anders gelaufen.

 

Das sind Erkenntnisse, die für mich leider viel zu spät kamen.

Sollten Sie, liebe Leser, in der Situation sein wie ich damals, bitte sprechen Sie mit Ihrer Familie und den Freunden über Ihre Krankheit.

Vor allen Dingen möchte ich Ihnen dringend empfehlen, suchen Sie bitte einen Psychiater auf, damit Sie selbst etwas gegen Ihren Krebs unternehmen können.

Wie soll ein Patient denn wissen, wer oder was der Auslöser seiner Erkrankung war, denn er fand doch sicher sein Leben, so wie er es gelebt hatte, in Ordnung. Aber da er nun einmal krank geworden ist, gilt zu erkennen was sein Immunsystem so sehr geschwächt hat, um die Krankheit ausbrechen zu lassen.

 

Aber warum habe ich verdrängt? Warum konnte ich nicht darüber sprechen?

Eine Nachbarin hatte vor ein paar Jahren eine Krebsoperation. Sie reagierte ganz anders als ich. Sie sprach mit allen, die es hören oder nicht hören wollten, über ihre Krankheit.

Auch besuchte sie eine Selbsthilfegruppe, um über ihre Ängste und Sorgen zu sprechen. Sie ist wieder gesund geworden und hat nicht so viel gelitten wie ich, die Verdrängerin.

Schon als Kind hatte man mir beigebracht, Verpflichtungen klaglos anzunehmen. Gefühle zeigen war in unserer Familie nicht üblich. Wir Kinder wußten, unsere Eltern hatten uns gerne, das mußte nicht gesagt werden. Auch über Krankheiten wurden keine großen Worte gemacht, man nahm sich eben zusammen.

"Nimm dich nicht so wichtig", waren die Lieblingsworte meiner Mutter. Immer bekam ich diesen Satz zu hören, wo ein Lob angebrachter gewesen wäre. Wenn ich lieb und fleißig war, fand ich Beachtung und so habe ich mich bemüht, ein liebes Kind zu sein.

Ich wurde ein liebenswerter Erwachsener, bestrebt, immer so unauffällig wie möglich zu leben. Auch wollte ich niemandem durch eigene Forderungen zur Last fallen. Ich habe ständig meine eigenen Bedürfnisse den Bedürfnissen anderer zuliebe verleugnet.

So war es auch nicht verwunderlich, daß ich damals alles mit mir alleine ausmachte. Keinem Menschen wollte ich mit meinem Gejammer weh tun, lieber alles schlucken. [...]

 

[...]

Aller 'guten' Dinge sind drei?

Auch die zweite Krebsoperation 'heilte' mich nicht. Wie auch, der Fehler war noch nicht gefunden. Mein Leben verlief immer noch an der Oberfläche. Der Leidensdruck war noch nicht groß genug, um das Leben, das doch so eingefahren war, zu ändern.

Ich kämpfte gegen den Krebs, statt mit ihm zu leben, ihn anzunehmen und mich auf mein Inneres zu besinnen. Das Unterbewußtsein tut, was man denkt, auch das habe ich mit der Zeit gelernt. Es wäre so einfach, ein glückliches, harmonisches Leben zu führen, wenn man nur die einfachsten Spielregeln beachten würde, da wir durch die bloße Kraft unserer Gedanken unsere Persönlichkeit, unsere Lebensumstände verändern und beeinflussen können. Wenn wir also die Kraft unserer Gedanken konzentriert auf ein Ziel richten - zum Beispiel Gesundheit - so werden wir früher oder später dieses Ziel auch erreichen. Aber bis dahin war es für mich noch ein weiter Weg. Ich sollte noch viel leiden, bis mir der Weg zu meinem Herzen geöffnet wurde.

 

Nach viereinhalb Jahren, im März 1992, bekam ich Schmerzen im Unterleib, die sich bis in den Rücken zogen. Schlagartig kamen alle Erlebnisse mit OP und Chemo wieder in mein Gedächtnis zurück. Dann verdrängte ich aber diese Gedanken mit der Begründung; das kann nicht sein, nicht schon wieder. Aber der Wert des Tumormakers war so hoch, daß mein Gynäkologe mich sofort ins Krankenhaus schickte.

Auf der Station C, dritter Stock, wurde ich erwartet. Von draußen drangen Bohrgeräusche bis in die abgelegenste Ecke meines Zimmers. Das Krankenhaus wurde umgebaut und ganze Gebäudestücke abgerissen. Vom Fenster aus konnte man den Baggern und Lastern bei ihrer Arbeit zusehen, das verkürzte ein bißchen die Wartezeit auf den Chefarzt. Mit Schaudern dachte ich an die Zeit in der dieser Lärm zur Folter würde, nämlich nach der Operation.

Als dann endlich Dr. L. erschien, war er gar nicht überrascht mich wiederzusehen.

Nach der Untersuchung machte er mir noch ein bißchen Hoffnung, indem er mir versprach, es erst mit einer Bauch-spiegelung zu versuchen.

Was dann geschah, ist einfach aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich muß innerlich so zugemacht haben, daß ich nichts mehr empfand, keine Sorgen, keine Angst. Die Erinnerung kam erst wieder, als ich aus der Narkose erwachte.

Mein Mann stand am Bett und sein Gesichtsausdruck sagte mir alles. Der Blick war nicht dazu angetan, mich optimistisch zu stimmen. Ich fühlte meinen Bauch: ach je, schon wieder, dachte ich nur.

 

Diesmal hatte ich auch noch einen zusätzlichen Bauchschnitt. Im Unterbauch ein faustdickes Rezidiv und noch viele kleine Metastasen, die Dr. L., mein Gynäkologe, operierte. Dann sah er auch noch verstreute Metastasen im Oberbauch und mußte noch einen zusätzlichen Schnitt unter dem Brustkorb anlegen.

Zwei riesige Schnitte auf meinem Bauch, jeder Atemzug verursachte Schmerzen. Die Magensonde in meiner Nase war so unangenehm, es war zum Heulen.

Aber das hatte ich mir ja abgewöhnt, ich war wohl wütend. Das Geduldig-Traurige war verschwunden, nur die Wut auf mich, auf die Ärzte, einfach auf alles in der Welt, das war neu. Ich war wütend, weil ich hilflos war. Ich schien am Ende zu sein und hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Die letzten schrecklichen Erlebnisse mit der Chemo, die jetzt in meinen Augen sinn- und wirkungslos gewesen war, machten mich beim bloßen Gedanken daran fast wahnsinnig vor Wut ... was sollte ich noch tun?

Als dann Dr. L. noch anfing, er wolle in der nächsten Woche schon die erste Chemo vornehmen, sagte ich doch tatsächlich: "Nein, ich nehme keine Chemotherapie mehr."

Hoppla, was war das? Ein Aufbäumen gegen die Weltordnung? Übte mein Inneres den Aufstand? Ja, es übte nur, später gab ich doch noch nach.

Viele wichtige Leute aus dem Krankenhaus, verschiedene Ärzte die ich noch nie gesehen hatte, besuchten mich. Sie würden sich schon lange mit Krebs beschäftigen und wollten mir die Wichtigkeit einer Chemotherapie vermitteln. Oberschwester Gertrud und Pater Pitt, wie er sich vorstellte, alle waren geimpft mir zu sagen: "Die Chemo ist wirklich lebensnotwendig für Sie und auch gar nicht mehr so schrecklich. Das Medikament Sofran nimmt die Übelkeit und damit den Schrecken an dieser Chemiekeule.

Alle sprachen nur von meinem Körper, keinen interessierte meine Seele. Wie gut hätte es dem Pater Pitt gestanden, wenn er mich gefragt hätte: "Wie geht es Ihnen wirklich, was fühlen Sie?" Vielleicht hätte ich zu diesem Zeitpunkt über meine Gefühle gesprochen und mit seiner Hilfe meine Hilflosigkeit besser überbrücken können.

Der einzige der versuchte, mich zu verstehen war mein Mann. Er drängte mich nicht und sagte nur: "Du alleine mußt entscheiden, ob du eine Chemotherapie machen lassen willst oder nicht. Ich und die Kinder möchten nur, daß du weiterlebst."

Also willigte ich ein und schon direkt am anderen Tag sollte der Tropf angelegt werden. [...]

 

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