Inhaltsverzeichnis

Vom Ende zum Anfang

Wie man gescheit noch der Dumme sein kann

Aus versehen oder Fünfzehn Minuten Ewigkeit

Die Kunst Glück zu haben

Geschichte vom Hackklotz

Geschichte vom Nichts

Geschichte für Nichtschwimmer

Geschichte vom Rumpelstielzchen

Die Kunst zu schweigen oder Mein bekannter Großvater

Eine 'unnatierliche' Geschichte

 

Vom Ende zum Anfang 

Es gibt Geschichten, die eigentlich niemand erzählen kann, weil sie so simpel sind, daß niemand darauf kommt. Beispielsweise die von einem seufzenden Mann.

"Was soll's", seufzt dieser, setzt sich auf die Türschwelle seiner alten Wassermühle und beißt in sein Sirupbrot.

"Was soll's, ich kann's sowieso nicht ändern. Frißt mir der Esel eben die Blumen aus den Kästen, zertrampelt er mir eben die Kräuter im Garten. Ist mir gleich. In ein paar Tagen ist doch alles vertrocknet. Stößt er mir eben die Wasserkanne um, irgendwann geht das Wasser doch zur Neige. Also was soll's. Ist mir alles gleich, ich kann's nicht ändern. - Die Blumen vertrocknen, ich kann's nicht ändern. Die Kräuter verdorren, ich kann's nicht ändern. Daß das Wasser in der Kanne nur für mich und den Esel reicht, ich kann's nicht ändern, weil ich eben nur die eine Kanne habe und es vier Stunden Fußmarsch zum Bach sind und der Tag nur zwölf Stunden hält und auf den Tag die Nacht folgt und es in der Nacht dunkel ist und man im Dunkeln nicht viel sehen kann und der Weg gefährlich ist, wenn man nicht viel sieht und der Esel zu bocken beginnt, wenn er im Dunkeln laufen soll und der gefährliche Weg noch gefährlicher wird, wenn man einen bockigen Esel dabei hat, der nicht viel sieht, da es Nacht ist und die Nacht den Weg dunkel macht und der Tag nur zwölf Stunden hält und der Bach vier Stunden Fußmarsch von der Mühle entfernt ist und ich nur eine Kanne Wasser habe, die gerade für mich und den Esel reicht. Es ist wie es ist, ich kann's nicht ändern", seufzt er wieder und schnippt eine Wespe von seinem Sirupbrot.

Die Wespe wirbelt ein Stück durch die Luft, fängt sich wieder und sticht wütend in das Hinterteil des Esels, der in diesem Augenblick vorübertrottet.

Der Esel schreit auf und rast, die Hinterbeine werfend, über die Wiese davon, vorbei an einem Strauch hinter dem sich ein Jäger mit seinem Hund verborgen hält, um Rebhühnern aufzulauern.

Als der Esel am Hund vorbeischießt, springt der auf und jagt ihm nach.

Der Jäger flucht und ruft seinen Hund zurück, doch der denkt nicht daran stehenzubleiben, weil auch der Esel nicht stehenbleibt, und so muß auch der Jäger hinterher und bald beginnt der mächtig zu schwitzen, weil sich schwere Lederstiefeln nicht besonders gut zum Laufen eignen. Auch rutscht ihm dauernd die Flinte von der Schulter und schlägt ihm zwischen die Beine, bis er mit einem Knie schließlich am Flintenriemen hängenbleibt und stürzt.

Ein Schuß löst sich aus der Flinte. Die Schrotladung trifft das Hinterteil einer Kuh, die gerade, inmitten ihrer Herde, gemächlich im Schatten einer Weide liegt und wiederkäut.

Die Kuh springt mit einem Satz hoch, brüllt und dreht sich wild im Kreis und galoppiert über die Weide davon, einen Hang hinauf, hinter dem sich der Bach sein Bett gegraben hat.

Die Herde, aufgeschreckt durch den Schuß und das wilde Gebaren der Kuh, stürmt hinterdrein, und der Hang bebt unter dem Getrampel der Rinderhufe, daß die Uferböschung erzitterte und eine Erdscholle sich löst, in den Bach rutscht und seinen Lauf versperrt.

In der Zwischenzeit hat der Mann in der Mühle sein Sirupbrot aufgegessen. Er steht auf, faßt die leere Wasserkanne und seufzt sein schon bekanntes Seufzen: "Ist mir gleich ob der Esel weg ist oder nicht. Er ist eben ein Esel. Ich kann ihn nicht ändern." Dann macht er sich auf den Weg um Wasser zu holen.

Unterdessen steigt das gestaute Wasser im Bach rasch über die Ufer, sickert auf die Weide hinaus, schlängelt sich einen Feldrain entlang und kriecht in den alten, verwachsenen Mühlgraben, den es füllt und in dem es entlangfließt bis es an der Mühle angelangt ist und gegen das Mühlrad drückt, das sich jetzt, schwerfällig knarrend, in Bewegung setzt und ein Schöpfwerk antreibt, das seinerseits beginnt, mit Kübeln Wasser in hölzerne Bottiche umzuschaufeln.

Der Mann der am Bach angekommen ist, ahnt nichts von alledem. Wie gewohnt füllt er als erstes seine Wasserkanne und setzt sich dann, wie gewohnt, am Hang auf einen Stein nieder, um seinen Proviant zu verzehren.

"Hat sich der Bach also einen neuen Weg gesucht", stellt er schließlich fest, als er so sitzt, und denkt sich: Na, meinetwegen, soll wohl so sein. - Steht auf, faßt die Wasserkanne, versetzt dem Stein auf dem er gesessen hat einen Tritt und macht sich auf den Heimweg.

Der Stein holpert und springt, wird schneller und schneller und schlägt schließlich mit Wucht in die Geröllwand, die den alten Bachlauf versperrt. Ein winziger Wasserstrahl beginnt sich augenblicklich am Einschlag durch das Geröll zu drängen. Er drückt und spült den Schlamm zwischen den Steinen hervor, macht sich breiter, schiebt und rüttelt und reißt mehr und mehr Geröll aus der Wand, bis sie wankt und endlich, unter dem Druck des angestauten Wassers, zusammenbricht, somit den alten Weg wieder freigibt.

Noch einmal knarrt das Schöpfwerk, dann steht es still. Und längst ist das Wasser im Mühlgraben wieder versickert, wie auch in den Bottichen, die keine dichten Böden mehr haben, als der Mann wieder bei seiner Mühle eintrifft. Und Nacht ist es mittlerweile außerdem, und der Mann stellt erschöpft die Wasserkanne ab und legt sich schlafen.

Als er am nächsten Morgen aufwacht, blickt er wie gewohnt als erstes zum Himmel und seufzt: "Gott, die Sonne steht schon wieder recht hoch", macht sich sein Sirupbrot, setzt sich vor seine Mühle und schnippt nach einer aufdringlichen Wespe ...

  
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