Kapitel 1:

Schon von weitem hörte Johann das Rauschen des fallenden Wassers, das, so lange er denken konnte, das mächtige Wasserrad antrieb. Er beschleunigte seine Schritte. Der erste Schnee, der in der Nacht gefallen war, knirschte unter seinen klobigen Lederstiefeln. Mit der rechten Hand drückte er den Hut tiefer ins Gesicht, während seine linke das Bündel hielt, in dem er seine Habseligkeiten trug.

Über den Fluß wehte ein eiskalter Wind. Johann zog fröstelnd die Schultern hoch. Obwohl er mit Kniehose und tuchenem Wams bekleidet war, unter dem er noch ein wärmendes Hemd trug, kroch ihm die Kälte dieses Dezembertages im Jahre 1648 durch seine Kleidung bis auf die Haut. Er blieb stehen, setzte das Bündel ab, um sich durch Schlagen der Arme die Hände aufzuwärmen.

Zu seinen Füßen floß die Wupper, der lebenspendende Fluß, der vielen Menschen dieser Gegend Arbeit gab. Kristallklar trieb er zwischen den schneebedeckten Ufern ruhig dahin. Bis auf den Grund konnte man sehen, wo Forellen unbeweglich, von Steinen kaum zu unterscheiden, im Wasser standen und auf Beute lauerten. Unzählige Fischarten lebten hier, und bald würde auch er wieder zum Fischen gehen.

Johann hauchte in die Hände und hob das Gepäck wieder auf. Leicht vornübergebeugt, wie man es bei großen Menschen oft sieht, setzte er seinen Weg fort.

Ein Hase tauchte plötzlich vor ihm auf und lief, von weiten Sprüngen unterbrochen, davon. Johann sah ihm nach. Jetzt, wo er wieder zu Hause war, würde er wieder seine Fallen aufstellen können, auch wenn es bei Strafe verboten war, weil das Wild dem Landesherren gehörte.

Er erreichte das Wehr, wo ein Teil der Wupper umgeleitet und gestaut wurde. Brausend schoß das Wasser in den Obergraben, setzte mit seiner Kraft das Rad in Bewegung. Johann blieb stehen. Es war ein eigenartiges Gefühl, den vertrauten Kotten wiederzusehen, der sich unter der Schnee-last zu ducken schien.

Er hatte ihn größer in Erinnerung. Er wirkte klein und unscheinbar im Schatten des Rüdener Berges, der sich am gegenüberliegenden Ufer der Wupper mächtig und drohend erhob. Johann warf einen scheuen Blick hinüber zu dem unheimlichen Berg, von dem es hieß, daß es dort nicht mit rechten Dingen zugehe und böse Geister ihr Unwesen trieben. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Tür, hinter der er die altvertrauten Gesichter wiedersehen würde. Wie oft hatte er sich gewünscht, wieder hier zu sein, als er mit dem Heer kreuz und quer durch die Lande zog.

Zwei Jahre war es her, daß die kaiserlichen Truppen unter Piccolomini, die in Solingen Quartier bezogen hatten, ihn zum Kriegsdienst preßten. Grobe Kerle, mit roten Feldbinden und weißen Bändern am Hut, unschwer als Kaiserliche zu erkennen, hatten ihn überwältigt und mitgeschleppt, als er auf dem Heimweg von Widdert nach Unten Rüden war. Für ihn hatte es kein Entkommen gegeben, und sein Vater war nicht reich genug gewesen, um ihn frei zu kaufen. Zwei Jahre lang hatte er das Kriegshandwerk ausüben müssen, schlief in Ställen und unter freiem Himmel, hatte gehungert und gefroren und wußte bis heute nicht, wofür er kämpfen mußte.

Der Krieg sei aus, wurde ihm vor einigen Wochen gesagt. Dreißig Jahre hatte er gedauert, länger als Johann, der dreiundzwanzig war, lebte. Lange hatte er noch auf seinen ausstehenden Sold gewartet, den er letztlich doch nicht bekam, und sich dann zu Fuß auf den Weg gemacht.

Johann wurde die Kehle eng, als er die Tür zum Kotten aufstieß. Drinnen war es schummrig. Nur spärlich fiel das Licht des grauen Dezembertages durch die Fenster. Fast lautlos drehten sich die hölzernen Antriebsräder, die die mächtigen Schleifsteine in Bewegung setzten. Gegen das helle Viereck des Fensters sah er die Silhouette seines Vaters Henrich, der vornübergebeugt vor dem Schleifstein saß und Messer schliff. Johann wurde es warm ums Herz beim Anblick des Alten und dem wohlbekannten Geräusch, welches Metall auf rotierendem Stein verursacht.

"Vater, ich bin wieder da!"

Johann warf sein Bündel zu Boden und blieb einige Meter vor Henrich stehen. Der kniff die Augen zusammen und blinzelte in das Halbdunkel, wo er schemenhaft eine Gestalt wahrnahm.

"Wer seid Ihr?", wollte er wissen.

"Ich bin es, Johann!"

Langsam hob Henrich die Öllampe hoch, die ihm bei der Arbeit zusätzliches Licht spendete. Seine rotgeränderten, entzündeten Augen richteten sich auf den Sohn, der nun näher kam.

"Du bist also wieder da", sagte er und stellte die Lampe an ihren Platz zurück. Überschwengliche Gefühlsäußerungen waren nicht seine Sache. Johann konnte sich nicht entsinnen, jemals Zärtlichkeiten von seinem Vater empfangen zu haben. Dafür hatte es oft Schläge gegeben, wenn Henrich betrunken war. Und trotzdem liebte er ihn.

Henrich schob die Knieblotschen beiseite und erhob sich. "Johann ist wieder da", rief er laut in den Raum, worauf nach und nach das singende Geräusch des Schleifens verstummte. Als erster kam Johanns Bruder Wilhelm angehumpelt. Er war fünf Jahre älter als Johann, und mit ihm fühlte er sich eng verbunden.

"Gut, daß du wieder zu Hause bist", sagte Wilhelm in seiner stillen Art, und seine blaßblauen Augen mit den hellen Wimpern sahen den Bruder liebevoll an, während er sich mit der schwieligen Hand durch seine roten Haare fuhr, die sich widerborstig aufrichteten. Wie alle Rothaarigen hatte er eine feine weiße Haut, die im Sommer mit Sommersprossen übersät war wie der Himmel mit Sternen. Doch seine Gesichtszüge waren grob, die Nase klobig, der Mund zu breit und wulstig. Wie oft hatte sich Wilhelm gewünscht, so auszusehen wie sein jüngerer Bruder; groß, schlank, mit braunem Teint und dunklem lockigen Haar.

Johannes Adrian, der Mitbesitzer des Kottens, kam auf Johann zu, seinen Sohn Peter vor sich herschiebend. Schwer fiel seine Hand auf Johanns Schulter. [...]

 

Quellenangabe:

Archive

Archiv der ev. Kirchengemeinde Solingen

Hauptstaatsarchiv Düsseldorf

Personenstandsarchiv Brühl

Stadtarchiv Solingen

 

Urkundenbücher, Regesten und größere Quellenveröffentlichungen

Hinrichs, Fritz

Ein Heberegister vom Jahre 1684, in Heimat 1938

Lacomblet, Theodor Joseph

Archiv für Geschichte des Niederrheins, Bd. 5 u. 6, Köln 1831-1839 und 1868

Mosler, Hans

Urkundenbuch der Abtei Altenberg, Bd. I und II, Düsseldorf 1912 und 1955

 

Abhandlungen und Darstellungen

Hardenberg, Hans

Die Fachsprache der bergischen Eisen- und Stahlindustrie, Bonn 1940

Hendrichs, Franz

Die Schleifkotten an der Wupper, Köln 1922

Lohmann, Heinrich Carl

Der Widderter Zehnte von 1067-1664, Solingen 1967

Montanus (Vincenz v. Zuccalmaglio)

Die Vorzeit der Länder Cleve, Mark, Jülich-Berg und Westphalen, Bd. 1 und 2, Solingen 1837-1839

Rheinischer Städteatlas, Solingen 1979, Dorp 1982

Rosenthal, Heinz

Solingen, Geschichte einer Stadt 1973

 

Zeitschriften und Zeitungen

Die Heimat, Beilage zum Solinger Tageblatt

Monatsschrift des Bergischen Geschichtsvereins

Romerike Berge

Solinger Kreis- Intelligenzblatt

Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins  

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