Siegtalbrücke

 

14 Uhr 10, Autobahn Gießen - Dortmund:

Ein Opelfahrer beobachtet, wie der vor ihm fahrende gelbe Porsche ohne erkennbaren Grund scharf nach rechts dreht, das Geländer der Siegtalbrücke durchbricht, sich in der Luft überschlägt und nach unten wegfällt. Schockiert bringt er den eigenen Wagen zum Stehen und läuft zurück. Von oben ist nichts zu erkennen.

 

"Nach Unna?" fragt der junge Mann. "Ich fahre bis Dortmund", entgegnet der Fahrer.

Der junge Mann lächelt, steigt ein und wirft seinen Schlafsack auf die Ablage hinter den Sitzen.

"Nett, daß Sie gehalten haben."

Scharf fährt der Fahrer an. Die Sonne scheint, und das Schiebedach ist halb geöffnet; die Haare flattern im Wind. Ich habe heute Glück, denkt der junge Mann. Ina wird sich freuen, wenn es so früh klappt. Der Tacho geht auf 140.

"Ich habe noch nie in einem Porsche gesessen", sagt der Anhalter. Der Fahrer nickt. Offenbar spricht er nicht viel. Eine Weile sitzt man stumm im Wagen.

 

14 Uhr 10, Siegen - Eiserfeld:

Eine Hausfrau steht' am Fenster ihrer Mietwohnung und blickt kurz hinaus. Sie sieht die Brücke und stößt einen Schrei aus. Ein gelbes Auto wirbelt durch die Luft und geht dann steil zu Boden. Es sind über 100 Meter. Die Frau preßt die Hände gegen die Ohren.

 

"Warum machen Sie das?" fragt der Fahrer plötzlich. Der junge Mann erschrickt fast - das Schweigen hatte lange gedauert.

"Was?" fragt er zurück.

"Trampen, oder wie Sie das nennen ... "

"Ja ... ", sagt der junge Mann.

"Aus finanziellen Gründen?"

"Auch. Außerdem ist es interessanter. Man lernt Menschen kennen und hat Spannung dabei: Wer nimmt einen mit, wohin, welches Auto... "

"Und dies ist Ihr erster Porsche?" Der Fahrer lächelt. Der Anhalter nickt.

"Es ist ein Leihwagen", meint der Fahrer. Ich brauche ihn nur für diese Fahrt."

Sein Partner zieht die Brauen etwas hoch. "Dann haben Sie was besonderes vor?"

"Jawohl."

Es kommt sehr knapp heraus, und der junge Mann fragt nicht weiter. An den Fenstern fliegt Landschaft vorbei. Gambacher Kreuz kündigt ein Schild an. Um vier könnte ich da sein, denkt der junge Mann, lehnt den Kopf an den Türholm und döst ein bißchen.

 

14 Uhr 10, Bahnhofstraße:

Einige haben geschrien. Doch der Wagen fällt abseits auf einen Schienenstrang. Er schlägt mit dem Heck auf und bleibt seitlich liegen. Ein Rentner greift sich ans Herz. Zwei Passanten kümmern sich um ihn. Andere laufen zum Auto; Einkaufstaschen bleiben stehen. "Es geht schon wieder", sagt der Rentner.

 

"Schlafen Sie nicht!" Wieder wird die Stille zerrissen. Der Fahrer lacht, aber es wirkt aufgesetzt. "Genießen Sie die Landschaft - noch können Sie es! Sie sind jung, es ist Juni ... "

Der junge Mann sagt nichts. Etwas merkwürdig, denkt er. 180 zeigt der Tacho. Der Fahrer kurbelt am Schiebedach; der Spalt verengt sich.

"Früher habe ich mein Leben auch nicht genossen", sagt der Porschefahrer. "Aber wohin bringt einen das? In die Irrenanstalt!" Er schreit es fast. Der junge Mann sieht ihn abrupt an.

"Ich war so depressiv", meint der Fahrer. "Kam nicht zurecht und wollte Schluß machen. - So ein Blödsinn! Was hätte man verpaßt: Autofahren, schöne Frauen, Urlaub - nicht wahr! Hahaha."

Der Anhalter lacht mit. Unbehagen bleibt.

Ein P-Schild erscheint. Der Fahrer nickt. Das Auto fährt in eine Parkbucht und hält.

"Ich habe ein Bedürfnis", sagt der Fahrer und geht ein paar Schritte ins Grüne.

Der junge Mann bleibt sitzen. Wenn es eine Tankstelle wäre, denkt er, würde ich abhauen. Aber hier hält ja keiner. Vielleicht gibt er auch bloß an, der Fahrer. Will irgendwie Kontakt machen ...

 

14 Uhr 10, Autobahn Gießen - Dortmund:

Ein Funkstreifenpolizist hält am durchbrochenen Geländer. "Unfall bei 109,0; Fahrtrichtung Dortmund", meldet er. "Ein Auto muß von der Brücke gestürzt sein. Vielleicht Seitenwind. Schicken Sie ein paar Mann her, und benachrichtigen Sie die Dienststelle in Siegen."

 

Der Fahrer kommt zurück. Es geht weiter. Er redet jetzt mehr und mehr.

"Ja, Selbstmord ist eine komische Sache", sagt er vor sich hin.

Der fängt ja schon wieder an, denkt sein Beifahrer.

"Man löscht ein Leben aus, das man von anderen gekriegt hat. Und wer treibt einen dazu? Die Gesellschaft. Oder? Sind es die Anlagen in einem selbst?"

Ich weiß nicht", sagt der junge Mann. "Niemand weiß das", erklärt der Fahrer.

"Vielleicht sollten wir von was anderem reden", wirft der junge Mann ein.

Der Fahrer sieht ihn kurz an und verstummt.

 

'Raststätte Dollenberg' zeigt ein Schild. Man rast vorüber. Die Uhr im Wagen zeigt fünf vor zwei.

Ich würde Selbstmord mit dem Auto machen", meint der Fahrer nach einer Pause. "Mit einem schnellen Auto ... "

Ich will hier raus, denkt der junge Mann. Warum bin ich am Parkplatz nicht Ich würde über eine Brücke fahren und das Steuer nach rechts reißen."

Dem Anhalter verkrampfen sich die Finger. Sein Knie drückt gegen die Seitentür. Es ist bloß Schau, spricht er in sich hinein, weiter nichts.

"Man muß aber genug Tempo haben und ein flaches Auto, sonst packt einen das Halteseil. Sie haben es ins Geländer eingelassen. Und der Winkel muß auch - "

"Hören Sie auf!" ruft der junge Mann.

"Aber wieso denn? Ich sagte Ihnen doch schon: solche Gedanken hatte ich früher mal. Sogar den Ort hatte ich mir ausgesucht: die Siegtalbrücke auf der Sauerlandlinie . - . "

"Halten Sie an!" schreit der Beifahrer. "Ich will auf der Stelle hier raus!" Hochaufgerichtet im Sitz, sieht er wirr um sich. Das Tempo liegt bei 210. Heller Wahnsinn.

"Nun regen Sie sich doch ab!" Der Fahrer lächelt und ändert den Tonfall. "Sind Sie überhaupt schon mal mit 200 die Kalteiche hoch?"

"Nein", sagt der junge Mann. Der Fahrer zeigt stolz auf den Tacho. "Die Kalteiche ist die Hauptwasserscheide hier. Sie trennt die Einzugsgebiete von Sieg und Lahn."

Es entsteht eine Pause. Der junge Mann lehnt sich wieder etwas nach hinten. Trotzdem - bei Wilnsdorf fragt er, ob man nicht doch mal halten könne. Auch er habe jetzt ein Bedürfnis ...

"Natürlich", sagt der Fahrer. "Sobald ein Rastplatz kommt."

Der junge Mann wird etwas ruhiger. Den Schlafsack nicht vergessen, denkt er. - Ausfahrt Siegen Süd. Man jagt vorbei. Ein Opel wird überholt.

Der Fahrer räuspert sich. "Übrigens", sagt er, "am liebsten würde ich dann einen Anhalter mitnehmen ... "

Der junge Mann starrt auf die Straße. Man ist in der Mitte einer sehr hohen Brücke. Er schreit: "Nein!" Der Fahrer lächelt.

 

14 Uhr 10, Siegtalbrücke:

Ein Realschullehrer greift ins Lenkrad eines gelben Porsche und reißt es nach rechts. Seine Augen sind unbewegt. Vom Aufprall gegen das Geländer wird er bewußtlos. Lediglich sein Beifahrer, ein Jurastudent, registriert noch, wie der Wagen umschlägt und dann trudelnd in die Tiefe rast, das Heck zuerst. Er will irgend etwas denken, aber das Fallgefühl ist zu stark. Ina, geht ihm durch den Kopf.

 

Man findet zwei Ausweise. Man vernimmt Zeugen. Man stellt fest, daß keiner der Insassen bisher polizeilich in Erscheinung getreten ist. Das erklärt den Unfall zwar nicht. Ein Verbrechen steht jedoch außer Betracht.

Die Akte wird geschlossen. Die Streifenpolizisten schreiben andere Protokolle. Die Hausfrauen gehen einkaufen, die Rentner werden übersehen. Ein Opelfahrer wäscht sein Auto. Man kehrt in den Alltag zurück.

Die Zeugen sind entlassen. Die Bilanz spricht von höherer Gewalt.

Startseite
Titelbild

Zurück zum Katalogeintrag