Der Zug war ziemlich lang, und immer, wenn er eine der zahlreichen Linkskurven ausfuhr, sah Erwin die Zugmaschine und die vorderen Wagen von seinem Sitz im Speisewagen. Die Zugmaschine hatte eine elfenbeinfarbene Tönung und es schien ihm so, als ob sie in ihrem emsigen, gefräßigen Vorwärtsdrang durch nichts aufzuhalten sei. Selbst auf dem Rücken liegend würde sie mit ihrem schnurrenden, schwarzglänzenden Räderwerk die Wagons durch die, Landschaft ziehen.

Er erinnerte sich an die schmale und doch so kompakte Spielzeuglokomotive, die er als Kind einmal zu Weihnachten geschenkt bekam, und wie er mit wohligem Grausen doch wahnsinnig neugierig zugleich, die rasselnden Zuckungen beobachtet hatte. Und wie er am Schluß nur noch das kalte, verschlossene Ding in den Händen gehalten hatte.

Er hatte sich nie vorstellen können, daß in der engen, hohen Kabine des Führerhauses Menschen säßen. Und selbst als er die Männer, ihre braune Aktentasche unterm Arm, die dünne Leiter hochsteigen sah, im Gehäuse der Lok verschwindend, hatten sie etwas geisterhaftes an sich und auch ihr Lächeln war metallern und ihren Körpern und Gesichtern weit voraus.

Er bestellte beim Ober eine Portion Kaffee und ein Sandwich mit einer Scheibe Edamer und Butter und blickte dann wieder hinaus in die vorbeiziehende Landschaft. Sie wurde eine Steigung der Alb hinaufgezogen, es knackte und rurnorte leise unter den Sitzen. Die fetzenhaften Schatten hinter Fenster verdichteten sich zu bizarren, schneeweißund dunkelgesprengten Fichten- und Buchenstämmen, welkem Gebüsch und starrenden Signalmasten, umgeben von einer Aura hoffnungsloser, eisiger Einsamkeit und Unerlöstheit.

Es hatte leicht zu schneien begonnen, aber die Flocken fanden keinen Halt an den Scheiben der Wagonfenster. Sie fuhren jetzt durch die letzten Ausläufer der Alb. Ab und zu geisterte durch die Flockenwirbel eine verschlossene Schranke mit ihrem Läutwerk und dahinter ein paar Autos, stumpf, verloren und unerreichbar. Erwin zündete sich eine Zigarette an. Er fühle das sachte Schaukeln des Wagons. Der Kaffee schmeckte leicht säuerlich und ab und zu klirrte der Löffel an den Rand der Tasse. Es saßen nur noch zwei Leute im Speisewagen, an der Tür zur Küche eine Blondine mittleren Alters und auf der anderen Seite des Gangs ein älterer Herr, vertieft in das Studium eines Katalogs. Hin und wieder streckte der Ober seinen Kopf durch die Öffnung der Pendeltür, um sich dann erleichtert wieder zurückzuziehen. Tia, nun saß er also tatsächlich hier und fuhr zur Kur 'Sanatorium am Waldrand'. Und auch der Vorstand und sein Abteilungsleiter hatten es nicht verhindern können.

 

"Finden Sie nicht auch, daß Sie Ihren Kollegen gerade in den Rücken fallen, wenn Sie ausgerechnet jetzt in Kur gehen? Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Herr Hollmann. Er macht sich's zu leicht, irgendwie zu einfach."

Der Vorstand hatte ihn kurz angesehen, mit vorgezogenen Lippen, und sein Lächeln zeigte die Geringschätzung, als er Erwin die Hand reichte.

"Na, sagen Sie auch etwas, Hollmann."

Er stupste Prokurist Hollmann in die Seite und blickte ihn herausfordernd an. "Es wird Ihnen doch noch was dazu einfallen, wenn Herr Folger so einfach die Kollegen ihrem Schicksal überläßt. Nicht wahr, Herr Folger?"

Der Vorstand feixte und verzog seine Miene zu einem spöttischen Grinsen. Erwin war das Blut ins Gesicht geschossen, er meinte, sein Kopf müsse platzen von der ohnmächtigen Wut und seinem Zorn. Sein ganzer Körper bebte und seine Handflächen fühlten sich feucht an und unter den Achseln merkte er den glitschigen Film des Schweißausbruchs.

"Warum sollte Herr Folger eigentlich nicht in Kur geh'n?"

'Meinen Sie, daß er sich die Kur verdient hat, Hollmann?" Der Prokurist hatte irritiert zum Vorstand geblickt und Erwin angestarrt.

"Das muß Herr Folger doch am besten wissen, ob er sich eine Kur verdient hat und ... ", er machte eine kurze Pause, sein Lächeln wurde süffisant, " ... und ob er sich sechs Wochen Sonderurlaub leisten kann. Der Arbeitsanfall ist in den letzten Wochen stark angestiegen, auch in der Arbeitsgruppe von Herrn Folger, habe ich nicht recht?"

Erwin hatte die Zähne aufeinandergebissen. In seinen Augen spürte er ein starkes Brennen und seine Lippen fühlten sich rissig und spröde an. Er fuhr mit der Zunge ein paarmal drüber, aber es brachte nur eine kurze Erleichterung und schon bald hatte er wieder das Gefühl, seine Zunge sei riesig angeschwollen und fände keinen Platz mehr in der Mundhöhle.

"Ich brauch die Kur aber", hörte er sich stammeln, "mein Arzt ... äh ... ich mein, die Ärztin ... "

Er blickte hilfesuchend zuerst den Prokuristen und dann den Vorstand an.

"Sie hat mir ... äh ... sie sagte ... eine Kur sei für mich notwendig ... unbedingt notwendig ... äh ... verstehen Sie..."

"Ja, ist schon gut, das wissen wir alles, wie die Ärzte das heute machen. Jeder kann heutzutage seine Kur bekommen ...

[...]

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