Gustav Damann:

Der Schrei

 

Um Himmels willen! Wo bin ich? Was ist passiert? Was ist das? Oh Gott! Ich bin ... Nein! Hilfe! Ich bin ... Nein ...

 

Sie hatten es sich an der Kaffeetafel gemütlich gemacht.

Am Nachmittag des zweiten Pfingsttages hatte der Pfarrer von Kirchdorfen den Bürgermeister des Ortes zu Gast. Bei Kaffee und Kuchen und einer dicken Zigarre ließen sie es sich gut schmecken.

Als eine Pause in der Unterhaltung eingetreten war, schaute der Bürgermeister den Pfarrer erwartungsvoll an: "Also, was ist, Herr Pfarrer? Warum haben Sie mich zu sich gebeten?"

Der Pfarrer rückte nicht gleich mit seinem Anliegen heraus, sondern erging sich in einer längeren, abschweifenden Einleitung. Schließlich kam er auf den Punkt: Er wolle für die Kirchengemeinde die alte Schule kaufen und dort auf dem Kirchberg das neue Pfarrzentrum errichten. Ja, oben auf dem Kirchberg sei der richtige Platz dafür. Und der Burgermeister solle ihn bei diesem Vorhaben unterstützen. - Nach längerem Nachdenken und einigen geäußerten Bedenken sagte der Bürgermeister schließlich seine Unterstützung zu.

 

So konnte der Bau des neuen Pfarrzentrums bereits im Sommer begonnen werden; und Pfarrer und waren froh und stolz, daß ihr neues Heim einen solch günstigen Standort erhielt. Es war allerdings nötig, auch ein kleines Stück des Friedhofs hinzuzunehmen, um genügend Platz für die Einfahrt zu erhalten, allerdings nur ein paar Quadratmeter. Dafür mußte ein Grab verlegt werden, in dem vor knapp einem Jahr eine junge Frau beerdigt worden war. Die Angehörigen waren jedoch mit der Grabverlegung einverstanden.

 

Als dann der Sarg zu seinem neuen Platz gebracht wurde, ließ der Pfarrer ihn noch einmal öffnen. Da erstarrten alle vor Entsetzen. Der Pfarrer griff nach seinem Herzen und brach bewußtlos zusammen. Allen stockte der Atem, ein eiskalter Schauer lief ihnen über den Rücken, und die Haare standen ihnen zu Berge ...

Die Leiche lag in völlig verkrampfter Stellung auf der linken Seite. Das rechte Knie und der rechte Ellbogen waren gegen das Deckbrett gestemmt. Der Kopf lag nach hinten abgewinkelt. Die Augen waren entsetzt aufgerissen. Der Mund stand weit offen zu einem fürchterlichen Schrei. Und die linke Hand hatte verkrampft das Totenhemd aufgerissen und den verwesenden Leib bis zur Brust entblößt - und noch kaum verstummt war der entsetzliche Schrei der Todesangst ...

 

Ich bin lebendig begraben! Oh Gott! Hilfe! Ich bekomme keine Luft mehr ... keine Luft ... Luft ... entsetzlich ... oh Gott ...

 

 

 

Andrea Barbon:

Der Löffel

 

Ich gebe zu, daß ich ein Faible für Esoterik habe. Mich interessieren ungewöhnliche Begebenheiten und ich werde ganz hellhörig, wenn Leute von unerklärlichen Erlebnissen berichten.

Jemand erzählte, daß im Krieg plötzlich eine Uhr stehengeblieben sei und später hätte sich herausgestellt, daß um diese Zeit ein Angehöriger gefallen sei. Oder es erschien im Traum eine Person, die Abschied nahm, genau in deren Todesnacht. Manche berichten von Pendeln, die die Kinderzahl und deren Geschlecht vorhersagten, andere von Tischerücken und Stimmen aus dem Jenseits.

 

Mir ist so etwas Aufregendes leider noch nie passiert.

Doch heute Abend habe ich vielleicht die einmalige Chance, selbst aktiv zu werden in Sachen Übersinnliches.

Im Fernsehen wird eine Zusammenfassung der Sendereihe 'Unglaubliche Geschichten' gezeigt. Mich interessiert diese Sendung immer brennend, doch meinem Mann ist das meistens zu suspekt. Er glaubt solchen Hokuspokus nicht und belächelt meine Begeisterung für derartige Dinge. Ich hoffe, der Beitrag, in dem das Publikum im Studio und zu Hause mitmachen kann, wird noch einmal gebracht.

Es handelt sich um das Löffelverbiegen.

Bevor es losgeht lege ich mir sicherheitshalber einen einfachen Löffel bereit. Es könnte ja sein, daß es wirklich klappt und dann wäre es schade um ein gutes Stück. Mein Mann hat keine Einwände gegen diesen Blödsinn. "Es läuft ja sonst nichts" sagt er.

Und tatsächlich, die Löffelverbiegerei kommt. Ich bin etwas nervös. Meine Augen hängen an den Lippen des Meisters. Jede Anweisung will ich genau verstehen und befolgen.

Mein Mann spottet ein bißchen, doch ich achte nicht darauf. Ich rücke den Sessel näher ans Gerät.

Der Meister erklärt nun, was geschehen wird. Wir, die Zuschauer, sollen den Löffel in vorgeschriebener Haltung in der linken Hand zwischen den Fingern einklemmen. Auf sein Kommando hin sollen wir dann den Löffel mit den Fingern zusammendrücken und verbiegen.

Auf dem Bildschirm ist ein Meer zu sehen, das die Sonne in einen goldenen Teppich verwandelt hat. Es glänzt und glitzert; vor unseren Augen schaukeln die Wellen sanft in gleichmäßigen Bewegungen. Dazu kaum wahrnehmbare Hintergrundmusik von Pink Floyd. - Der Meister beginnt leise zu sprechen, eine Art Hypnose.

"Wir sitzen bequem und sind ganz entspannt. Wir fühlen uns sehr wohl und werden ganz ruhig. Unsere Augen sehen die Unendlichkeit des Meeres. Wir konzentrieren uns auf die Wellen und hören das Rauschen des Ozeans und die leisen Klänge der Musik. Eine wohlige Wärrne durchflutet unseren Körper. Alle Energien versammeln sich im Bauchraum. Diese Energien atmen wir nun in die Brust. - Und leiten sie weiter in den linken Arm. - In die linke Hand. Durch die Finger fließen sie in Löffel, den wir dort locker halten. - Unser Körper wird warm und schwer. - Unser Arm wird warm und schwer. Unsere Hand wird warm und die Wärme fließt nun in den Löffel. - Der Löffel wird ganz warm und das Metall wird sehr weich - so weich, daß wir den Löffel sanft mit den Fingern der linken Hand zusammendrücken können. Wir drücken den Löffel - jetzt! "

Ich drücke - und es geschieht nichts! Mensch, das klappt ja gar nicht! - Voller Frust werfe ich den Löffel hinter mich aufs Sofa. Ich bin wirklich sehr enttäuscht, weil es nicht funktioniert hat. Richtig sauer bin ich. Wo ich mich doch so angestrengt habe. So konzentriert. Was habe ich bloß falsch gemacht? Ich sehe, daß im Studio einige Leute einen verbogenen Löffel in der Hand halten.

Ich glaube doch an dieses Phänomen und wollte es meinem Mann, dem ungläubigen Thomas, unbedingt beweisen. Und nun dieser Flop!

Betreten sehe ich zu ihm hinüber. "Schau mal", sagt er und hält mir den Löffel hin. Er ist zusammengedrückt und verbogen.

Ich traue meinen Augen nicht. 'Wie hast du das gemacht?" will ich von ihm wissen. Da bemerke ich erst, daß er einen ganz erschrockenen Ausdruck in den Augen hat. Sein Gesicht ist feuerrot und wird nun sehr blass.

"Es ging ganz leicht. Ich habe den Löffel bloß aufgefangen und er war weich wie Butter."

 

Wir haben das corpus delicti aufgehoben, und wenn wir diese unglaubliche Geschichte erzählen, dient der verbogene Löffel als Beweis für die übersinnlichen Kräfte, die in meinem ungläubigen Mann stecken.

 

 

Eugen Baursch:

Die Gesichtslosen

 

Ohne Zweifel, es begegnen uns im Leben Dinge, die sind einfach nicht zu erklären. So ist es mir mit den Gesichtslosen ergangen, einem Phänomen, das sich offen vor uns zeigt, aber nicht zu fassen ist. Und was uns am meisten stört, ist die simple Tatsache, daß wir rational, also mit Vernunft und Verstand, keinen Schritt auf das Außergewöhnliche zuzugehen vermögen. Warum nicht?

Ich weiß es nicht.

 

Als mir die Sache mit den Gesichtslosen zum ersten Mal passierte, war Krieg, und die Menschen beschäftigten sich allen Ernstes damit, einander umzubringen. Auch ich stand damals mitten im Feuer, was so heroisch klingt, aber es beileibe nicht ist.

Es war später Abend im Feindesland, wieder so ein Begriff. In der Nacht sollte ein Stoßtrupp auf Erkundung gehen. Wir vertrieben uns die Wartezeit mit Nichtigkeiten oder dachten an zu Hause. Wir neun Soldaten setzten uns um einen alten Tisch herum, der draußen vor einer gekälkten Mauer stand. Das heißt, wir saßen zu sechst, drei lehnten an der weißen Wand. Die Abendsonne fiel schräg über einen vorgezogenen Giebelrand auf die ungewöhnliche, aber zeitgemäße Szene.

Dort erwischte mich das nur den Sinnen sich Zeigende wie ein sich behutsam anschleichendes Raubtier. Als ich unvermittelt einmal aufblickte und auf die drei Männer an der Mauer schaute, mußte ich mir kräftig die Augen reiben, so unbekannt und nicht annehmbar war das Dargebotene. Alle drei Männer waren zu erkennen; wo ihre Leiber waren und daß diese sich normal bewegten. Nur die Gesichter, die um fast besser kannte als das eigene, waren verloschen, ja verschwunden. Sie waren Gesichtslose geworden.

Ich muß gestehen, ich war für einige Augenblicke verwirrt, und ein ungutes Gefühl wollte sich in mir breitmachen. Aber ich, Manns genug - wie leicht sich das so dahersagt die aufkeimenden Ängste in den Anfängen zu ersticken, sie gewissermaßen abzuschütteln wie lästigen Ballast, den ich in dieser Nacht der lauernden Gefahren nicht gebrauchen konnte. Und so vergaß ich das Erlebnis einfach, man hätte auch sagen können, ich habe es verdrängt.

Erinnert wurde ich am nächsten Morgen daran, als wir wieder in unserer Stellung waren. "Verlust: drei Männer!" stellte der Feldwebel fest. Als er dann die Namen nannte, wußte ich, daß die Gesichtslosen mehr als nur ihr Antlitz verloren hatten. Natürlich sprach ich nicht von dem, was nur in gewissen Zusammenhängen einen Sinn ergeben konnte. Und ein solcher war nicht der Zeit gemäß.

 

Nach dem Krieg kehrte ich in meine Heimatstadt zurück, die unter Bombenteppichen geächzt hatte und sich nur in halbhohen Mauerresten oder übriggebliebenen Grundmauem darbot. Eines Abends sah ich inmitten einer Ruine eine junge Frau mit zwei Buben, die sich an einer Giebelwand niedergelassen hatten. In diesem Hause hatten sie bis zu dessen Zerstörung gewohnt; oben im zweiten Stock waren noch die Tapeten der einzelnen Zimmer zu erkennen.

 

Wieder trat die seltsame Erscheinung in mein Blickfeld. Die schwarzhaarige junge Mutter und die beiden Buben saßen auf einer alten Gartenbank. Als sie zu mir, der ich des Weges kam, hinüberschauten, trugen sie keine Gesichter mehr, nur die grüßenden Hände waren zu sehen. Ich erschrak über alle Maßen, eilte zu den drei Menschen und bat sie, die Ruine, besonders vor der hohen Mauer, zu verlassen. Überzeugend scheine ich nicht gesprochen zu haben. Wie hätte ich erklären können, was ich selbst nicht begreifen und einordnen konnte?

Die junge Frau jedenfalls wehrte ab und einer der Buben fragte noch, was mein Gerede solle. Der Krieg sei doch vorbei, und in ihrem verschütteten Keller seien noch Vorräte, und wo die wären, da wollten sie bleiben.

 

Es war für mich schrecklich, als ich einige Tage später erfuhr, daß eine Mutter mit ihren Kindern von einer herabstürzenden Hauswand erschlagen worden war.

In dem Mornent glaubte ich zu wissen, daß die Ereignisse keine Sinnestäuschungen waren. Und dennoch versuchte ich, mir einzureden, daß nur der Zufall hier ein Spiel mit mir trieb.

Zum Glück hatte ich dann Jahrzehnte Ruhe, bis vor einigen Monaten ein befreundetes Ehepaar bei uns zu Besuch war. Wir hatten an einem schönen Sommerabend draußen auf der offenen Terrasse gesessen und erzählt, ein jeder von und für sich.

Gegen Abend zogen wir ins Wohnzimmer um, und die beiden Gäste nahmen auf der Couch Platz, die direkt unter dem langgestreckten Band von Glasbausteinen stand. Plötzlich traf es mich wie ein Keulenschlag! Die Abendsonne, schräg durch das Glas einfallend, hatte Gästen die Gesichter genommen. Sie waren beide zu Gesichtslosen geworden.

Ich schwieg mich aus. Weshalb hätte ich sie in Angst und Schrecken versetzen sollen, falls sie meinen Erlebnissen Gewicht beigemessen hätten? Und wie hätte ein Unheil verhindert werden können, wenn man das möglicherweise Bedrohende selbst im Ansatz nicht kannte? Ich verharrte in der Hoffnung, daß ich ein Irrender war, der unter Verkettung unglücklicher Umstände zu einer These gekommen war, so wacklig wie ein alter, ausrangierter Tisch.

 

Ich will es kurz machen: Gegen Mitternacht fuhr das Ehepaar heim, herzlich verabschiedet und mit dem Versprechen zu einem Gegenbesuch.

Eine halbe Stunde später läutete das Telefon. Ich wagte nicht, den Hörer abzunehmen. Meine Frau tat dies. Sie schrie auf: "Sie sind verunglückt! Beide tot!"

Meine Verzweiflung war unbeschreiblich. Dies zu verstehen, darum ringe ich heute noch.

 

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