[...]

Als sie gerade gehen wollte, kam einer von den alten Bekannten herein. Als er Tatjana sah setzte er sich müde zu ihr.

"Na? Sieht man dich auch mal wieder? Alles klar?"

"Geht so. Sag mal, weißt du was mit Hajo ist?"

Der Typ, an dessen Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte, sah sie mit gerunzelter Stirn an. "Ich hätte angenommen, daß eher du mir genaueres sagen kannst. Ich weiß nur, daß er seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft nicht mehr dealt. Wäre aber auch beknackt. Jürgen ist auch schon wieder draußen, aber der hat sich wohl nach Frankfurt abgesetzt. Weißt du denn nicht, wo Hajo steckt?"

"Nein", gab Tatjana zu. "Ich wollte ihn anrufen, aber dann war es zu spät."

"Wie, hast du die ganze Zeit keinen Kontakt zu ihm gehabt?"

"Nein ... meine Mutter ... ach, auch egal. Hast du was zu rauchen?"

"Na klar, Kleines. Is´ aber nix besonderes. Schwer, was brauchbares aufzutreiben. Ich wollte eigentlich dieses Wochenende nach Holland, aber irgendwie bin ich versackt." Er fingerte einen kleinen Klumpen Dope aus der Tasche und begann, eine Tüte zu bauen.

"Und was machst du jetzt so?" erkundigte er sich, während er den fertigen Joint anbrannte.

"Ach, nichts weiter. Hab mich etwas erholt und jetzt guck ich mal ... " Sie nahm die dargebotene Tüte und rauchte gierig.

"Na, wir sehen uns noch. Bis später. Ich muß langsam ins Bett." Damit stand er auf und verließ schwankend den Laden. Tatjana blieb noch eine Weile völlig angeknallt sitzen. Sie war nach den zwei Wochen nichts mehr gewöhnt.

Nachdem sie wieder einigermaßen gerade stehen konnte, machte sie sich auf den Weg zu Hajo. Sie fragte sich, ob ihre Mutter wohl schon die Polizei alarmiert hatte und die sie womöglich vor Hajos Tür erwarteten, aber als sie um die Ecke kam, war da weit und breit nichts und niemand außer dem trüben Morgengrauen.

Fünf Minuten drückte sie sich vor Hajos Haus herum, bis sie sich endlich traute zu klingeln. Als nichts geschah, klingelte sie nochmals und schließlich stützte sie sich an der Klingel ab und hielt sie fest.

Nach einer Ewigkeit ging der Türsummer. Hajo stand in Unterhose und mit dick geschwollenen Augen in der Tür und sah sie vergrätzt an: "Was willst du denn auf einmal hier?" krächzte er und kratzte sich zwischen den Beinen.

"Hajo?" quietschte es hinter ihm aus der Wohnung. "Wer ist da?"

Tatjana sah ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an.

"He, Baby, was soll´s? Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Hast du gedacht ich warte bis ich schwarz werde?"

Wortlos rannte Tatjana die Stufen hinunter auf die Straße. Hajo zuckte mit den Schultern und nahm sich vor, sie später zu suchen und die Sache in Ordnung zu bringen. Tatsächlich hatte er eine Mordswut auf sie gehabt, weil sie sich nicht gemeldet hatte und er sie auch nicht erreichen konnte. Langsam dämmerte es ihm, daß ihre Mutter dahintersteckte. Schließlich hatte die ihm am Telefon immer gesagt, Tatjana sei fertig mit ihm. Wie konnte er das nur glauben? Aber egal, kommt Zeit kommt Rat und jetzt war er einfach zu müde um sich anzuziehen und hinter ihr herzulaufen ...

 

Tatjanas Gedanken kreisten wie ein Wirbelsturm. Sie konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Schließlich fand sie sich am Bahnhof wieder. Sie stieg in den ersten Zug nach Frankfurt. Es war 7:30 Uhr morgens und der Zug war vollgepfropft mit Pendlern, die zur Arbeit fuhren. Tatjana versteckte sich die Fahrt über auf dem Klo und gelangte unbehelligt nach Frankfurt. Hier hatte sie eine alte Freundin, die vor einem Jahr mit ihren Eltern dorthingezogen war und mit der sie noch eine Weile eine Brieffreundschaft aufrechterhalten hatte. Irgendwie war das ganze in der letzten Zeit eingeschlafen, aber bei ihr würde sie sicher erst mal unterkommen, bis sie wußte, wie es weitergehen würde.

 

 

Kapitel 6

 

Während der Fahrt stellte Tatjana sich ihre Zukunft vor: Sie würde erst mal bei Rena wohnen, bis sie etwas eigenes gefunden hatte. Dann Arbeit finden, vielleicht als Supermarktkassiererin, oder als Verkäuferin in einer Boutique. Sie würde abends in der frankfurter Szene herumtoben, einen neuen Freund finden ... Andererseits war Rena die Chance von den Drogen wegzukommen. Sie hatte nun schon eine ganze Weile ohne gelebt und sich wieder daran gewöhnt. Der Reiz des Unbekannten hafteten dem Drogenkonsum für sie längst nicht mehr an. Dafür war die Macht der Gewohnheit an diese Stelle getreten. Tatjana hatte das Gefühl, als fehle ihr etwas. Bei Rena jedenfalls würde sie clean bleiben, schließlich wollte sie nicht rausfliegen. Und überhaupt: Sie war keine Drogenabhängige! Sie konnte jederzeit aufhören und würde das jetzt auch tun.

 

Vom Hauptbahnhof aus fuhr sie mit der U-Bahn schwarz zur 'Hauptwache'. Von dort schlenderte sie gemütlich zur Goethestraße, indem sie sich durchfragte. Es war gerade erst früher Nachmittag und Rena war womöglich noch gar nicht zu Hause.

Als sie die Adresse gefunden hatte, gab es die erste Ernüchterung: Auf keiner der Klingeln stand 'Grotemann'. Tatjana bekam einen Anflug von Panik, als sie ihre Pläne den Bach hinuntergehen sah. Systematisch suchte sie alle Klingeln in der Straße ab, bis zum letzten Haus, aber nirgends fand sie den Namen ihrer Freundin. Sie ging zu der Hausnummer zurück, wo Rena eigentlich wohnen sollte und drückte die unterste Klingel. Als es summte ging sie hinein und fragte die Dame, die in der Wohnungstür erschien.

"Och, die Grotemanns, die sind schon vor über einem halben Jahr ausgezogen. Der Vater ist nach Amerika versetzt worden, glaub' ich."

Mit hängenden Schultern schlich Tatjana zurück auf die Straße. Den Rest des Nachmittages strich sie ziellos durch die Frankfurter Fußgängerzone. Sie versuchte sich Gedanken über ihre weitere Zukunft zu machen, aber ihr Kopf war wie leergefegt. Kein Gedanke ließ sich länger als wenige Sekunden verfolgen, dann war er wieder weg. Tatjana fing an sich einzubilden, daß sie etwas zu rauchen haben müsse, oder Pillen oder Speed ... irgendwas zum einwerfen, damit sie mit der Situation besser fertig würde.

Bei Einbruch der Dämmerung fand sich Tatjana schließlich am Hauptbahnhof wieder. Sie hatte weder Geld, noch ein Ziel. Es war nur einfach der naheliegendste Ort, schließlich war sie hier angekommen. Ihr Magen knurrte, ihr Hals war ausgedörrt und sie hätte sonst was gegeben für einen dicken Joint und ein Bier. Außerdem wurde es empfindlich kalt. Vielleicht konnte sie am Bahnhof irgendwo ein warmes Plätzchen zum Schlafen finden.

Sie setzte sich auf eine Bank neben eine junge Frau, die ebenfalls müde aussah. Ihren Rucksack behielt sie sicherheitshalber die ganze Zeit an. Die Frau neben ihr sah trübe rüber. Sie war wohl 'high'. Tatjana sprach sie an, weil sie sich einfach mit jemandem unterhalten mußte.

"Du bist auf Trebe", stellte die Frau lakonisch fest, als Tatjana ihr eine stark gestraffte und etwas geschönte Version ihrer Geschichte aufgedrängt hatte. Die Frau hatte eigentlich kaum zugehört, aber sie hätte es wohl auch erraten, wenn Tatjana gar nichts gesagt hätte.

"Hm ... ", machte Tatjana, weil sie nicht gleich zugeben wollte, daß sie keine Ahnung hatte, was mit 'Trebe' gemeint war. Irgendwie war ihr die Fremde sympathisch, obwohl sie ziemlich ungepflegt aussah — oder gerade deswegen.

"Ich heiße Anna", sagte die Frau, die eigentlich noch ein junges Mädchen war, aber das sah man erst nach einer Weile. Sie sah unheimlich alt und verbraucht aus, so als habe sie ihr ganzes Leben lang hart arbeiten müssen. Vielleicht kam sie aus dem Osten?

"Ich hatte tierischen Zoff Zuhause. Ich suche eine Bude. Weißt du was?" Tatjana versuchte sich cool zu geben. Irgendwie hatte sie ein unsicheres Gefühl, so, als würde sie in der Fremde, in der sie sich ja jetzt quasi befand, jeder gleich reinlegen wollen, der ihr ihre Unerfahrenheit anmerkte.

"Vielleicht könnte ich dir helfen", meinte Anna und machte eine Pause. "Du kannst mit zu mir kommen. Wir sind zu dritt in der Wohnung." Das Angebot klang verlockend. [...]

 

Was als allgemeiner Frust über die häusliche Situation begann, wird an dieser Stelle zur Achterbahnfahrt in die Drogenhölle. Die authentische Geschichte ist spannend erzählt, damit der (i.d.R. junge) Leser sie auch bis zum Schluß liest; sie ist offen und schnörkellos geschrieben, um nichts zu beschönigen, aber auch nichts zu dämonisieren — ein spannender, aber dennoch sachlicher Roman mit hoher Aufklärungskraft und Glaubwürdigkeit.

 

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